DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Armut und Reichtum, neu gesehen

Les Miserables trugen einst ein Transparent mit der Aufschrift „Work or Riot“ durch eine englische Stadt. Es waren dünne Grubenarbeiter mit ausgemergelten Gesichtern, die von Polizisten mit Schlagstöcken flankiert wurden. Sie demonstrierten nicht für höhere Löhne, sondern dafür, dass das Bergwerk nicht zugesperrt wurde. Die Stilllegung des Werkes gefährdete ihr Überleben. Entsprechend radikal war ihre Forderung „Arbeit oder Aufstand“. Sie drohten an, Raub und Plünderung zu praktizieren, sollten die Bergwerksbesitzer ihrem Wunsch nicht nachkommen.

Zwei Klassen standen sich einst frontal und sichtbar gegenüber und drohten einander Gewalt an. Das gibt es heute – in den Ländern des demokratischen Westens – nicht mehr. Der Klassenkampf in jener englischen Stadt vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnete einen Höhepunkt der Ausbeutung der working class people durch die Klasse der Kapitalisten. Laut K. Marx besitzt diese Klasse nicht nur das Geld für die Produktion, sondern bestimmt auch die Produktionsbedingungen. Der Arbeiter ist am Profit nicht beteiligt, und er bestimmt nicht mit, welche Dinge und auf welche Art und Weise sie hergestellt werden sollen. Er verkauft nur seine Arbeitskraft. Dieser Gipfel der kapitalistischen Ausbeutung wurde – alles in allem - durch sozialistische Politik und durch sozialen Ausgleich überwunden.

Heute scheint der Ausgleich nicht mehr zu funktionieren. Die Armut blieb erhalten und spitzte sich sogar zu. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weltweit geöffnet. Gegen wen kämpfen Arme heute an? Was ist das für ein Konflikt, wenn zum Beispiel Jugendliche in einer europäischen Großstadt andere Jugendliche in einem Park bedrohen und ihnen Geld und Handys rauben. Oder wenn in einem Sozialbau, einem mit Staatsgeld errichteten Bau, ein Bewohner von seinem Balkon aus auf die Insassen anderer Balkone schießt. Oder wenn in einem Ort am Mittelmeer die Behörde das Trinken von Alkohol in den Straßen und das öffentliche Urinieren verbieten muss. - In allen diesen Fällen ist weder ein Klassenkampf gegeben noch liegen individuelle Ereignisse vor. Die Medien versuchten freilich, zu individualisieren: Die Jugendlichen gehörten verschiedenen Religionen, Ethnien, Banden an. Der Schütze mit dem Gewehr war ein Psychotiker, der die Sommerhitze nicht aushielt. Die Konsumenten des Billigurlaubs verfielen in Aggression, nachdem ihr Fußballverein gesiegt (oder verloren) hatte.

Die Gewalt traf auf keinen sozialen Gegenspieler, sondern blieb innerhalb der sozialen Schichte. Bei Räubern wird der Anschein von Reichtum noch beachtet, wenn sie das Schaufenster eines Juweliers sprengen, die Filiale einer reichen Bank überfallen, oder vor einer „Home Invasion“ das Haus und das Auto vor dem Haus taxieren. Beim Überfall der Jugendlichen im Park trafen Jugendliche mit billigen Smartphones auf andere Jugendliche mit billigen Smartphones und demütigten sie. Bezüglich Einkommen und Status war zwischen den Gruppen kein Unterschied gegeben, dennoch drangsalierten arme Leute andere Arme ganz brutal. Das ist, als ob das Ich gesteigert und verrückt geworden wäre, während das Wir (Wer sind wir – Wer sind die andern?) nicht mehr bewusst gewesen wäre.

Reismann-und-Curd-Juergens
Die alte Unterschicht, Paris 1953.

Die Freiheit des Wir haben zum Beispiel R. Reagan und M. Thatcher unterdrückt, als sie die Gewerkschaften unterdrückten. Die Freiheit des Ich, die bekanntlich leicht verrückt werden kann, wendet sich seit langem ins Private. Nicht mehr: Der Verkehr einer Region soll reduziert werden, weil er Mensch und Natur schadet, sondern Ich will 140 fahren, weil 240 km/h auf meinem Tachometer stehen. Eine verantwortungslose Politik greift diese unvernünftigen Ich – Forderungen auf und ignoriert gleichzeitig die vernünftigen Wir – Forderungen, die öffentlich vorgebracht werden. Überhaupt wird eine vernünftige Politik (die, die ein vielfältiges Ganzes gestalten will) zurzeit in den Hintergrund gedrängt. Die „entfesselte Wirtschaft“ macht es möglich. Sie schießt über das Ziel der allgemeinen Versorgung und der Schaffung von Wohlstand hinaus und nimmt Einfluss auf die Regeln der demokratischen Gesellschaft. So eine Ökonomie erhöht die Korruption im Land und höhlt das demokratische Spiel aus.

Den Egoisten mit den unvernünftigen Ich – Forderungen findet man in allen Schichten. Die Upperclass, die Mittelschicht und die Unterschicht weisen diesen Typus auf, der über die Interessenslage einer Klasse hinaus nach Mehr Einkommen, Mehr Komfort, Mehr Lebenschancen verlangt. Der persönliche Wunsch war dem Proletarier in alter Zeit war fremd. Auch die Wohlfahrt war ihm fremd. Er hatte entweder Arbeit oder er hatte keine, und bei Arbeitslosigkeit konnte er verhungern. Der Unterschicht – Angehörige von Heute hat das Recht, arbeitslos zu sein und zu überleben. Er kann lange Zeit im Zustand alimentierter Erwerbslosigkeit leben. Dieses Recht auf physisches Überleben haben die Menschen in der Zeit nach 1945 erworben und es hat, so gut und wichtig es ist, in den westlich – demokratischen Gesellschaften den Zwang (und die Pflicht) zum politischen Kampf gelöscht.

Die weiterhin bestehende Armut hat ihre Tödlichkeit verloren. Sie hat aber zu keiner Neuen Unterschicht geführt, die eigene Werte hat, die denen der Mehrheitsgesellschaft widersprechen (Losing Ground). Soziologen, die das zu sehen glauben, verwechseln die Epochen. Die streikenden Landarbeiter bei John Steinbeck („Stürmische Ernte“) hatten eigene (marxistische) Werte, nicht aber die arbeitslosen Hafenarbeiter bei Hubert Selby, Jahrzehnte später („Letzte Ausfahrt Brooklyn“). Sie sind weder idealistisch in der alten Art noch teilen sie Werte der heutigen Mittelschicht. Die Neue Unterschicht bei Selby hat überhaupt keine Werte. Sie bestätigt die Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit bestimmter, armer Leute in den USA, die dort als „White Trash“ bezeichnet werden.

Die neue Unterschicht, Los Angeles  1990
Die neue Unterschicht, Los Angeles 1990.

Arme Leute, die Bildung und Weiterbildung meiden, die ihren Sex verantwortungslos leben, die Affektkontrolle nicht kennen, die ihre Frauen unterdrücken, die Arbeit nicht oder nur unwillig ausüben, und die instinktiv immer den bequemsten Weg gehen, ja solche Menschen sind ein Schrecken. Es gibt sie, doch man kann sie nicht als „die“ Unterklasse verallgemeinern. Sie sind ein Teil der Unterklasse, der quantitativ wächst. Vermehrt wird die Schicht durch prekäre Gruppen, die aus der Mittelschicht nach unten absteigen. Mit diesen Gruppen bildet diese negativ gesehene Schicht ein, immer größer werdendes Heer von Gelegenheitsarbeitern und Erwerbslosen, in dem die Populisten fischen. Dieses Heer ist am Steueraufkommen nur geringfügig beteiligt. Und es kann durch Androhung von Arbeitslosigkeit nicht diszipliniert werden, weil es durch Wohlfahrt geschützt ist. Es kann aber in Zukunft eine eigene, große Partei bilden. Das ist in nächster Zeit noch nicht der Fall.

Dagegen die Reichen, die sich in alter Zeit Brandreden in den Parlamenten anhören und auf der Straße geschützt werden mussten (sofern nicht überhaupt Anarchisten Bomben gegen ihre Kutschen und Automobile warfen) - sie leben heute abgeschotteter als um 1900. In Wohntürmen, Resorts, Reichenvierteln und Palastanlagen sind heute die Reichen unter sich. Sie haben keine Nicht-Reichen als Nachbarn. Sie leben besser geschützt als einst Basil Zaharoff in einem Hotel am Mittelmeer oder William Hearst in einem kalifornischen Schloss. Ihr Alltag bleibt geheim, nicht zuletzt durch die vielen Kameras, elektronischen Melder und Securities. Diener, Berater und Anwälte betreuen diese Leute und auch die großen Medien wissen nicht, was Superreiche zwischen Ihren Mahlzeiten und Vergnügungen tun. Es gibt Bilder von halbnackten Superreichen auf Schiffen und anderen auf Golfplätzen, aber man kennt die Stundenpläne nicht. Was ist die typische Arbeit eines Superreichen, die er neben seiner großen und offensichtlichen Mobilität zwischendurch entfaltet?

Die Arbeit eines sehr reichen Menschen ist heute – grob gesagt - auf das Investieren in Noch – Mehr – Reichtum beschränkt. Das war nicht immer so und wurde erst in den 1970 er Jahren durch die Neubestimmung der Weltwährung (USD) unter R. Nixon und durch Praktiken des Erdölhandels z.B. bei M. Rich ungut verändert. Seit damals fingen Superreiche damit an, strategisch finanziell ohne die Beachtung der Realwirtschaft zu denken. Ihr Geld floss nicht mehr direkt in die Industrie, sondern verwandelte sich hauptsächlich in Besitz, in Aktien, in Fonds, in Stiftungen. Kein Superreicher hat mehr ein Produktionsziel vor Augen, durch das einst die Carnegie, Ford, Krupp usw. die Gesamtwirtschaft belebten und dadurch auch den Staat stärkten. Dazu kommt, das Steueraufkommen heutiger Reicher, das neoliberale Politiker verringert haben, läuft heute durch Steuervermeidung und Steuerhinterziehung der Tendenz nach gegen Null.

Ein alter Spruch trifft heute zu: Nur der Mittelstand erhält den Staat. Der Arme und der Reiche bezahlen keine Steuern. - Während ein Mittelständler einen Teil seines Einkommens abliefert, für Straßen, Wasserversorgung, Kanalsystem, Energienetzwerke, Spitäler, Schulen, Bahnen, Flugverkehr, Polizei, Staatsschutz, Forst- und Landschaftspflege u.a.m., will der Reiche steuerfrei durchs Leben düsen. Es ist, als ob er glaubt, dass er per se der Allgemeinheit nutzt. Das ist aber ein Irrglaube und eine miese Rechtfertigung dazu. Der Reiche gibt, so er keine Industrieziele verfolgt, durch Wohltätigkeit und Konsum kaum Vermögen an die Gesellschaft ab. Das Gros der Ökonomen sind hier einer Meinung: die „Sickertheorie“ des Ronald Reagan war falsch. Wenn er außerdem, ab einer Milliarde USD, die Gesetzgebung eines Landes beeinflusst, dessen Infrastruktur er gratis nutzt, sozusagen „mitregiert“, obwohl er kein Mandat hat, höhlt er die Demokratie aus.

Dennoch Optimismus. Die Dysfunktionalität der Superreichen wird die westlich – demokratischen Länder nicht zerstören. Vor allem in Europa nicht, wo in absoluten Zahlen die meisten Milliardäre leben (nicht in den USA und nicht in China, wo ihre Zahl schneller wächst) und wo Hindernisse durch Nation und Hindernisse durch EU den grenzenlosen Reichtum behindern. Sogar in den USA ist ein Rollback gegen die Superreichen denkbar, wenn nämlich die Wohlfahrt im Lande fehlen wird. In der Zeit des F.D. Roosevelt hat es ein solches Rollback gegeben. Wenn die Kleinen Leute im Fernsehen nur oft genug die Zahnarztscheunen in den Counties und die Drogengerichte in den öffentlichen Schulen sehen werden (in denen nachmittags die Richter über die Drogenabhängigen richten), und andererseits die goldenen Flugzeuge der Reichen und ihre Flüge zu den Sternen sehen werden, - dann werden sie nach Umverteilung rufen und davon ablassen, absurd zu wählen. Reiche und Arme sind heute sozial nicht mehr aneinander gekettet. Nicht in der Form von Marx und nicht in der Form von Warren Buffett, der gesagt hat: Die Reichen führen gegen die Armen einen Krieg – und sie werden ihn gewinnen! - Im Zeitalter der Telekommunikation haben die Reichen keine Methode mehr, die Milliarden, die sie besiegt haben, durch Polizei zu kontrollieren. Sie könnten die Armen noch eine Zeitlang weiter überrunden, doch irgendwann müssten sie Raumschiffe besteigen und davon fliegen.

© M.Luksan, Juli 2025

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