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Armut und Reichtum, neu gesehen
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Les Miserables trugen einst ein Transparent mit der Aufschrift „Work
or Riot“ durch eine englische Stadt. Es waren dünne Grubenarbeiter mit
ausgemergelten Gesichtern, die von Polizisten mit Schlagstöcken
flankiert wurden. Sie demonstrierten nicht für höhere Löhne, sondern
dafür, dass das Bergwerk nicht zugesperrt wurde. Die Stilllegung des
Werkes gefährdete ihr Überleben. Entsprechend radikal war
ihre Forderung „Arbeit oder Aufstand“. Sie drohten an, Raub und
Plünderung zu praktizieren, sollten die Bergwerksbesitzer ihrem
Wunsch nicht nachkommen.
Zwei Klassen standen sich einst frontal und sichtbar gegenüber und
drohten einander Gewalt an. Das gibt es heute – in den Ländern
des demokratischen Westens – nicht mehr. Der Klassenkampf
in jener englischen Stadt vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnete
einen Höhepunkt der Ausbeutung der working class people durch
die Klasse der Kapitalisten. Laut K. Marx besitzt diese Klasse
nicht nur das Geld für die Produktion, sondern bestimmt auch die
Produktionsbedingungen. Der Arbeiter ist am Profit nicht beteiligt, und
er bestimmt nicht mit, welche Dinge und auf welche Art und Weise
sie hergestellt werden sollen. Er verkauft nur seine Arbeitskraft.
Dieser Gipfel der kapitalistischen Ausbeutung wurde – alles in
allem - durch sozialistische Politik und durch sozialen Ausgleich
überwunden.
Heute scheint der Ausgleich nicht mehr zu funktionieren.
Die Armut blieb erhalten und spitzte sich sogar zu. Die
Schere zwischen Arm und Reich hat sich weltweit geöffnet.
Gegen wen kämpfen Arme heute an? Was ist das für ein Konflikt,
wenn zum Beispiel Jugendliche in einer europäischen Großstadt
andere Jugendliche in einem Park bedrohen und ihnen Geld und
Handys rauben. Oder wenn in einem Sozialbau, einem mit Staatsgeld
errichteten Bau, ein Bewohner von seinem Balkon aus auf die
Insassen anderer Balkone schießt. Oder wenn in einem Ort am
Mittelmeer die Behörde das Trinken von Alkohol in den Straßen
und das öffentliche Urinieren verbieten muss. - In allen diesen
Fällen ist weder ein Klassenkampf gegeben noch liegen
individuelle Ereignisse vor. Die Medien versuchten freilich, zu
individualisieren: Die Jugendlichen gehörten verschiedenen
Religionen, Ethnien, Banden an. Der Schütze mit dem Gewehr war
ein Psychotiker, der die Sommerhitze nicht aushielt. Die Konsumenten
des Billigurlaubs verfielen in Aggression, nachdem ihr Fußballverein
gesiegt (oder verloren) hatte.
Die Gewalt traf auf keinen sozialen Gegenspieler, sondern blieb
innerhalb der sozialen Schichte. Bei Räubern wird der Anschein
von Reichtum noch beachtet, wenn sie das Schaufenster eines
Juweliers sprengen, die Filiale einer reichen Bank überfallen,
oder vor einer „Home Invasion“ das Haus und das Auto vor
dem Haus taxieren. Beim Überfall der Jugendlichen im Park
trafen Jugendliche mit billigen Smartphones auf andere
Jugendliche mit billigen Smartphones und demütigten sie.
Bezüglich Einkommen und Status war zwischen den Gruppen
kein Unterschied gegeben, dennoch drangsalierten arme
Leute andere Arme ganz brutal. Das ist, als ob das Ich
gesteigert und verrückt geworden wäre, während das Wir
(Wer sind wir – Wer sind die andern?) nicht mehr bewusst
gewesen wäre.
 Die alte Unterschicht, Paris 1953.
Die Freiheit des Wir haben zum Beispiel R. Reagan und M. Thatcher
unterdrückt, als sie die Gewerkschaften unterdrückten. Die Freiheit
des Ich, die bekanntlich leicht verrückt werden kann, wendet sich
seit langem ins Private. Nicht mehr: Der Verkehr einer Region soll
reduziert werden, weil er Mensch und Natur schadet, sondern Ich
will 140 fahren, weil 240 km/h auf meinem Tachometer stehen.
Eine verantwortungslose Politik greift diese unvernünftigen
Ich – Forderungen auf und ignoriert gleichzeitig die vernünftigen
Wir – Forderungen, die öffentlich vorgebracht werden. Überhaupt
wird eine vernünftige Politik (die, die ein vielfältiges Ganzes
gestalten will) zurzeit in den Hintergrund gedrängt. Die
„entfesselte Wirtschaft“ macht es möglich. Sie schießt über
das Ziel der allgemeinen Versorgung und der Schaffung
von Wohlstand hinaus und nimmt Einfluss auf die Regeln
der demokratischen Gesellschaft. So eine Ökonomie erhöht
die Korruption im Land und höhlt das demokratische Spiel aus.
Den Egoisten mit den unvernünftigen Ich – Forderungen findet
man in allen Schichten. Die Upperclass, die Mittelschicht und die
Unterschicht weisen diesen Typus auf, der über die Interessenslage
einer Klasse hinaus nach Mehr Einkommen, Mehr Komfort, Mehr
Lebenschancen verlangt. Der persönliche Wunsch war dem Proletarier
in alter Zeit war fremd. Auch die Wohlfahrt war ihm fremd. Er
hatte entweder Arbeit oder er hatte keine, und bei Arbeitslosigkeit
konnte er verhungern. Der Unterschicht – Angehörige von Heute
hat das Recht, arbeitslos zu sein und zu überleben. Er kann lange
Zeit im Zustand alimentierter Erwerbslosigkeit leben. Dieses Recht
auf physisches Überleben haben die Menschen in der Zeit nach 1945
erworben und es hat, so gut und wichtig es ist, in den westlich –
demokratischen Gesellschaften den Zwang (und die Pflicht) zum
politischen Kampf gelöscht.
Die weiterhin bestehende Armut hat ihre Tödlichkeit verloren. Sie hat
aber zu keiner Neuen Unterschicht geführt, die eigene Werte hat,
die denen der Mehrheitsgesellschaft widersprechen (Losing Ground).
Soziologen, die das zu sehen glauben, verwechseln die Epochen.
Die streikenden Landarbeiter bei John Steinbeck („Stürmische Ernte“)
hatten eigene (marxistische) Werte, nicht aber die arbeitslosen
Hafenarbeiter bei Hubert Selby, Jahrzehnte später („Letzte
Ausfahrt Brooklyn“). Sie sind weder idealistisch in der alten Art
noch teilen sie Werte der heutigen Mittelschicht. Die Neue
Unterschicht bei Selby hat überhaupt keine Werte. Sie bestätigt die
Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit bestimmter, armer Leute
in den USA, die dort als „White Trash“ bezeichnet werden.

Die neue Unterschicht, Los Angeles 1990.
Arme Leute, die Bildung und Weiterbildung meiden, die ihren Sex
verantwortungslos leben, die Affektkontrolle nicht kennen, die
ihre Frauen unterdrücken, die Arbeit nicht oder nur unwillig ausüben,
und die instinktiv immer den bequemsten Weg gehen, ja solche
Menschen sind ein Schrecken. Es gibt sie, doch man kann sie nicht als
„die“ Unterklasse verallgemeinern. Sie sind ein Teil der Unterklasse,
der quantitativ wächst. Vermehrt wird die Schicht durch prekäre
Gruppen, die aus der Mittelschicht nach unten absteigen. Mit
diesen Gruppen bildet diese negativ gesehene Schicht ein, immer
größer werdendes Heer von Gelegenheitsarbeitern und Erwerbslosen,
in dem die Populisten fischen. Dieses Heer ist am Steueraufkommen
nur geringfügig beteiligt. Und es kann durch Androhung von
Arbeitslosigkeit nicht diszipliniert werden, weil es durch Wohlfahrt
geschützt ist. Es kann aber in Zukunft eine eigene, große Partei
bilden. Das ist in nächster Zeit noch nicht der Fall.
Dagegen die Reichen, die sich in alter Zeit Brandreden in den
Parlamenten anhören und auf der Straße geschützt werden
mussten (sofern nicht überhaupt Anarchisten Bomben gegen
ihre Kutschen und Automobile warfen) - sie leben heute
abgeschotteter als um 1900. In Wohntürmen, Resorts,
Reichenvierteln und Palastanlagen sind heute die Reichen unter
sich. Sie haben keine Nicht-Reichen als Nachbarn. Sie
leben besser geschützt als einst Basil Zaharoff in einem
Hotel am Mittelmeer oder William Hearst in einem kalifornischen
Schloss. Ihr Alltag bleibt geheim, nicht zuletzt durch die vielen
Kameras, elektronischen Melder und Securities. Diener, Berater
und Anwälte betreuen diese Leute und auch die großen Medien
wissen nicht, was Superreiche zwischen Ihren Mahlzeiten und
Vergnügungen tun. Es gibt Bilder von halbnackten Superreichen
auf Schiffen und anderen auf Golfplätzen, aber man kennt die
Stundenpläne nicht. Was ist die typische Arbeit eines Superreichen,
die er neben seiner großen und offensichtlichen Mobilität
zwischendurch entfaltet?
Die Arbeit eines sehr reichen Menschen ist heute – grob gesagt -
auf das Investieren in Noch – Mehr – Reichtum beschränkt.
Das war nicht immer so und wurde erst in den 1970 er Jahren
durch die Neubestimmung der Weltwährung (USD) unter R. Nixon
und durch Praktiken des Erdölhandels z.B. bei M. Rich ungut
verändert. Seit damals fingen Superreiche damit an, strategisch
finanziell ohne die Beachtung der Realwirtschaft zu denken.
Ihr Geld floss nicht mehr direkt in die Industrie, sondern
verwandelte sich hauptsächlich in Besitz, in Aktien, in Fonds,
in Stiftungen. Kein Superreicher hat mehr ein Produktionsziel
vor Augen, durch das einst die Carnegie, Ford, Krupp usw.
die Gesamtwirtschaft belebten und dadurch auch den Staat
stärkten. Dazu kommt, das Steueraufkommen heutiger Reicher,
das neoliberale Politiker verringert haben, läuft heute durch
Steuervermeidung und Steuerhinterziehung der Tendenz
nach gegen Null.
Ein alter Spruch trifft heute zu: Nur der Mittelstand erhält den
Staat. Der Arme und der Reiche bezahlen keine Steuern. -
Während ein Mittelständler einen Teil seines Einkommens abliefert,
für Straßen, Wasserversorgung, Kanalsystem, Energienetzwerke,
Spitäler, Schulen, Bahnen, Flugverkehr, Polizei, Staatsschutz,
Forst- und Landschaftspflege u.a.m., will der Reiche steuerfrei
durchs Leben düsen. Es ist, als ob er glaubt, dass er per se
der Allgemeinheit nutzt. Das ist aber ein Irrglaube und eine miese
Rechtfertigung dazu. Der Reiche gibt, so er keine Industrieziele
verfolgt, durch Wohltätigkeit und Konsum kaum Vermögen an die
Gesellschaft ab. Das Gros der Ökonomen sind hier einer Meinung:
die „Sickertheorie“ des Ronald Reagan war falsch. Wenn er außerdem,
ab einer Milliarde USD, die Gesetzgebung eines Landes beeinflusst,
dessen Infrastruktur er gratis nutzt, sozusagen „mitregiert“, obwohl
er kein Mandat hat, höhlt er die Demokratie aus.
Dennoch Optimismus. Die Dysfunktionalität der Superreichen wird
die westlich – demokratischen Länder nicht zerstören. Vor allem
in Europa nicht, wo in absoluten Zahlen die meisten Milliardäre
leben (nicht in den USA und nicht in China, wo ihre Zahl schneller
wächst) und wo Hindernisse durch Nation und Hindernisse durch
EU den grenzenlosen Reichtum behindern. Sogar in den USA
ist ein Rollback gegen die Superreichen denkbar, wenn nämlich die
Wohlfahrt im Lande fehlen wird. In der Zeit des F.D. Roosevelt
hat es ein solches Rollback gegeben. Wenn die Kleinen Leute im
Fernsehen nur oft genug die Zahnarztscheunen in den Counties und
die Drogengerichte in den öffentlichen Schulen sehen werden
(in denen nachmittags die Richter über die Drogenabhängigen
richten), und andererseits die goldenen Flugzeuge der Reichen
und ihre Flüge zu den Sternen sehen werden, - dann werden
sie nach Umverteilung rufen und davon ablassen, absurd zu
wählen.
Reiche und Arme sind heute sozial nicht mehr aneinander
gekettet. Nicht in der Form von Marx und nicht in der
Form von Warren Buffett, der gesagt hat: Die Reichen führen
gegen die Armen einen Krieg – und sie werden ihn gewinnen! -
Im Zeitalter der Telekommunikation haben die Reichen keine
Methode mehr, die Milliarden, die sie besiegt haben, durch Polizei
zu kontrollieren. Sie könnten die Armen noch eine Zeitlang weiter
überrunden, doch irgendwann müssten sie Raumschiffe besteigen
und davon fliegen.
© M.Luksan, Juli 2025
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