DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Die kalte Schulter der Modernen Kunst

Der Gymnasiast sah eine „Kunstaktion“ in einem Wiener Theaterkeller. Nachher erklärte man ihm, das sei Kunst gewesen, und zwar „ein Durchgang, kein Objekt“. Das Werk als Objekt war abgeschafft. Er war erst achtzehn Jahre alt und konnte den Unterschied sprachlich noch nicht fassen. Doch sein Erleben war unverstellt. Er erlebte Hermann Nitsch, wie er ein Tier zerriss, das er sich vom Fleischhauer geholt hatte. Mit dem Blut, das damals ein echtes Blut war, beschmierte er sich den Hals und betatschte er halbnackte, junge Leute. Teile des Tieres zerrte er auseinander und stieß dabei unverständliche Schreie aus. Blutgeruch lag in der kalten Luft. Ein abendlich gekleidetes Pärchen sagte „Oh!“ und “Ah!“. Zwischen seinen Handgriffe legte Nitsch manchmal eine Pause ein, wie sie ein Priester in der Messe macht. Alles schien bedeutsam zu sein. Nur: Was bedeutete es? Jahre nach seinem Studium las er, dass die Aktionen von Nitsch - angeblich - den Moment bezeichnen, wo die Kunst schon etwas Eigenes ist, sich aber von Religion noch nicht abgetrennt hat.

Hermann Nitsch, Werk, 1983
Hermann Nitsch, Werk, 1983 ausgestellt.

Kurz vor der Matura brach der Gymnasiast die Schule ab. Er war ein Schulschwänzer, der im letzten Schuljahr genau so viele Schulstunden auf dem Konto hatte wie Fehlstunden. Die Fehlstunden waren nicht entschuldigt. Dieser Schüler war ein Fall von Verwahrlosung. Seine Eltern hatten Besseres zu tun, als sich um ihn zu kümmern. Die Lehrer waren verärgert über die ständige Abwesenheit des Schülers und gaben ihm auch dort, wo er eine gute Prüfung abgelegt hatte, nur einen Vierer. Die anderen Lehrer waren gerecht und gaben Fünfer. Am Ende wurde die Schule ganz gemieden. Der Junge schlief lange, frühstückte lange und war schon am Vormittag im Kino.

Gegenüber der Schule war ein Kaffeehaus, das jugendliche Raucher und Trinker frequentierten. Der Schuldirektor tauchte manchmal dort auf, packte einen Schüler und führte ihn im Polizeigriff in die Schule zurück. Einmal wurde der Mann gefragt, warum er einen Buben am Ohr über die Straße führte. Seine Antwort war: Ich kann ihn nur rausschmeißen – oder ihm eine runterhauen! - Er fragte den Buben: Was ist dir lieber? - Runterhauen!, sagte der Junge, und dieser Hofrat brüllte auf: Das ist mir aber untersagt! - Am Ohr! Am Ohr! Am Ohr!, sang wochenlang die halbe Schule. Der besagte Gymnasiast malte sich die Abwehr des Direktors aus. Der Mann war klein, er konnte leicht in dessen Brusthöhle hineinstoßen, aber er musste in die Hocke gehen, um mit dem Schlagring dessen Kniescheibe zu treffen. Von solchen Dingen träumte der Gymnasiast.

Er brach - wie gesagt - die Schule ab. Um auf andere Gedanken zu kommen, ging er neun Monate lang zum Bundesheer. Nach dem Bundesheer verfolgte er die Idee der wertlosen Matura weiter. Er versuchte nicht, auf einem Seitenweg in die Gesellschaft hinein zu kommen, sondern besuchte eine Maturaschule. Dort traf er auf andere Spätzünder und Verlorene. Der gescheite Tomek. Die sanfte Christine. Der stille Alex. In der Galerie, in der Christine arbeitete, versuchte der Externist die Moderne Kunst zu verstehen. Er studierte ein Ding aus Holz und aus Sperrmüll von vorne und von hinten ganz genau. Was er sah, fasste er in Worte. Seine Worte ergaben keinen Sinn. Das Ding steht nur da, sagte er, und ist frech! - Ja warum?, fragte Christine und er wusste damals keine Antwort. Heute weiß er, was das Ding in einem weißen Raum wirklich sagt: Ich stünde nicht da, wäre ich keine Kunst! - Er besuchte einen Abend von Otto Muehl. Die Angstlosigkeit des Muehl hätte ihm gefallen müssen, doch sie war mit Schamlosigkeit gepaart und mit Tiraden, die er nicht verstand. Muehl entkorkte Sektflaschen zwischen seinen Beinen und spritzte Sekt ins Publikum. Er schrie er von Wichteln, die er schlachten wollte, und es war unklar, was er damit meinte.

Die Hippies, die der junge Mann im In- und im Ausland kennen lernte, waren ihm weitgehend sympathisch. Ihre Ablehnung der Eltern und ihre Ablehnung der Gesellschaft waren okay, doch ihr öffentliches Auftreten war ihm peinlich. Die Performance der Hippies musste er tolerieren. 1968 – stürmten in Paris Polizisten auf selbstbewusste Studenten los und interviewten in Prag Reporter kecke Jugendliche auf Russenpanzern. Er glaubte, dass die Jungen auf der ganzen Welt nur für sich selber kämpften, und spürte gleichzeitig die weltweit mitmachenden Medien sehr stark. Wenn er in der Zeitung von einem Sitzstreik las oder auf der Straße Ho – Ho- Tschi – Minh – Schreie hörte, erblickte er darin das Neue. Diesen Klang und diesen Hauch nahm er begierig auf. Er dachte: Das Neue wird jetzt jeden Winkel der Gesellschaft befreien, doch das tat es nicht. Es befreite nur den Kapitalismus.

Er wurde Mitglied in einem Verein, der in Wien den „Art Club“ weiter führen wollte, sich aber nur zwei Jahre lang hielt. In diesem „Art Center“ (in der Hohenstaufengasse) präsentierte der Vorstand den „Film ohne den Film“ auf einer unverputzten Wand. Einer aus dem Vorstand stellte sich in den Lichtkegel des Bildwerfers und bewegte sich möglichst nicht. Er stand nahe der Wand und wurde vom Licht des Leerkaders überflutet. Dazu gab es das Geräusch einer Kamera, das von einem Tonbandgerät kam. Die Tasten des Tonbandgerätes drückte der Externist. In diesem seltsamen Lokal, in dem die Hippies friedlich zechten, saß er zwischen sanften Giftlern und gescheiten Neinsagern ruhig da. Er durfte mitmachen und wurde toleriert, obwohl er durch seinen Anzug und durch seine Stoppelglatze als Anderer zu erkennen war. Er durfte sogar den Wächter in der Türe spielen, der die eintretenden Hippies zu mustern hatte. Ein Jazzmusiker stellte sich manchmal zu ihm hin und half ihm, die erwünschten von den unerwünschten Gästen zu unterscheiden. Einmal ging ein Pressegirl in den verrauchten Räumen umher und knipste den gaumig vorlesenden Hermann Schürrer. Über den schlanken Günter Brus warfen der Maturaschüler und der Musiker einen Plastikvorhang und schoben den Strampelnden in die Küche zu den Köchinnen ab. Er hatte vor der Journalistin onanieren wollen.

Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965
Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965.

Die Externisten – Matura wurde in Baden bei Wien abgelegt. Dort war ein strenger Schulinspektor der Schutzengel des jungen Mannes. Er zwang den Fachlehrer, ihn in Englisch durchzulassen. Bei der Verabschiedung der Prüflinge rief er durch den Saal „Wo ist der Engländer?“ und schüttelte dem jungen Mann die Hand, während der Englischlehrer sauer daneben stand. Jener scharfe Typ mit Glatze und weißem Stecktaschentuch wurde schließlich zum einzigen Lehrer, der bei dem künftigen Studenten einen günstigen Eindruck hinterließ. Nach der Prüfung eilten die jungen Leute zwischen Kastanienbäumen und gelben Häusern von der keimtötenden Schule weg. Sie entkorkten schon in der Schnellbahn eine Flasche Sekt und stießen auf ihren Erfolg an.

Bei den Fächern, die der junge Mann jetzt studierte, setzte er die „Lehre von der Gesellschaft“ an die Stelle der „Geschichte der Kunst“, die ihn ursprünglich interessiert hatte. Eine der ersten Vorlesungen, die er hörte, war über die Geschichte der amerikanischen Gewerkschaften. Das war ein Wissen, nach dem nicht jeder Österreicher verlangt. Er hörte vom Idealismus der IWW und vom Mobstertum der großen Gewerkschaften. Kriminelle und nicht-kriminelle Arbeiterführer in Amerika beriefen sich manchmal auf amerikanische Soziologen, die ihre Wissenschaft deutschen Soziologen verdankten.

Der Kontakt zu den Freunden aus der Maturaschule war noch vorhanden. Der gescheite Tomek studierte „Geschichte“ und war der Meinung, dass der Geschichtsunterricht in Österreichs Schulen bei der Rettung der Bodenkreditanstalt 1931 endete. Dem trat der Soziologiestudent nicht nahe, weil er selber in Geschichte über die UNO abgeprüft worden war. Der stille Alex musste sich sein Studium an der Technischen Universität selbst bezahlen. Er verdiente es sich, indem er Taxi fuhr und Schreibmaschinen reinigte. Er zerlegte und wusch die „Kleine Erika“ des Soziologiestudenten, während ihm dieser vom Ende des Jimmy Hoffa erzählte. Wenig später kam jener Freund durch einen Unfall ums Leben. Bei einer Kreuzung in Schwechat, die auf gelb geschaltet war, rammte ein Tankwagen von links die Fahrertür des Taxis, das Alex lenkte. Auf der gereinigten Schreibmaschine tippte der Soziologiestudent achtzehn Todesanzeigen auf schwarz geränderte Karten. Dann fuhr er nach Salzburg, zu Alex´ Mutter, zu einem traurigen Begräbnis.

Die Universitäten in Westeuropa waren einst eine Schutzzone für junge Leute. Diese strebten nicht primär nach akademischer Würde, sondern wollten eine Zeit der Besinnung durchlaufen, ohne die Effizienz – Regeln der Gesellschaft. Der Soziologiestudent fühlte sich wohl - und gab trotzdem die Soziologie eines Tages auf. Der Grund für seine Entscheidung war, dass er Begriffe nicht nur definieren, auch anwenden wollte. Eine Welt aus Begriffen bauen! Es drängte ihn zur Darstellung und zur Darstellung auf der Bühne – deshalb „Lehre vom Theater“. Im Hörsaal 50, fast unter dem Dach, hörte er eine Professorin, die ihm sehr gefiel, über das Barocktheater vortragen. Sie gefiel ihm nicht körperlich, sie sah schrecklich aus, aber geistig, weil sie klug und gezirkelt sprach. Sie war die Selbstbeherrschung in Person und zugleich freundlich und zugewandt.

Margret Dietrich hörte sich, auch wenn die Vorlesung schon aus war, jede Frage mit Engelsgeduld an. Oft trat ein Assistent zu ihr hin und flüsterte ihr den nächsten Termin ins Ohr. Dann zeigte sie auf eine große Uhr und öffnete bedauernd ihre massigen Arme. Sie wollte sich die gestellte Frage merken und am Beginn der nächsten Stunde beantworten. In der nächsten Stunde suchte sie den Fragenden vom letzten Mal, er sollte seine „sehr sehr interessante Frage“ wiederholen. Dieser oder diese war in der Regel nicht mehr präsent und die Dietrich rief: „Sind also die Fragesteller nicht mehr unter uns?! Ich gehe damit im Stoff weiter!“

Diese Professorin wollte eine Antwort auf die Frage finden, ob die Arbeiter in der Fernsehepoche ein „Arbeitertheater“ wirklich wünschten. Das Ziel ihrer Feldforschung war ein Nein. Theater beginnen spät. Arbeiter gehen früh schlafen. In der Wohnküche sitzt der Arbeiter mit seinem Gast. Im Theater strebt er zum Buffet. Die Forschung führten zehn Studierende mit jeweils einem Arbeiter oder einer Arbeiterin durch. Der Student der Theaterwissenschaft nahm mit einer Tante daran teil. Er schleppte die Frau ins Akademietheater, wo Margret Dietrich im Foyer stand und jeder Versuchsperson die Hand schüttelte. Die Tante des Studenten war eine hübsche Frau, die nie einen Beruf ausgeübt hatte und nun als Eine aus dem Arbeitsvolk fungierte. Sie sah sich das Stück „Alle meine Söhne“ an und beantwortete dann zwölf von zwanzig Fragen sehr originell. Ihr Satz „Arbeiter essen mehr als Angestellte und Akademiker, weil sie mehr Kalorien verbrauchen“ ging als Kapitel – Überschrift in jene Studie ein.

Um 1975 besuchte der Student im Museum für Moderne Kunst eine Ausstellung der Concept Art in Wien. Diese Amerikaner, dachte er, trennen sich nie ganz von ihrer Tradition. Sie reiten nie auf schwarzen Quadraten - und nie auf übermalten Zeichnungen - herum, sondern machen Werke, in denen sich das Alte und das Neue findet. Da hatte er sich geirrt. Die gezeigten Amerikaner schoben die Ausführung ihrer Objekte dem Betrachter hin. Der Student der Theaterwissenschaft fand bunte Raster gemalt oder aufgeklebt auf weißen Wänden und Fotos und Tagebücher und Skizzen (und blecherne Kuben und Zylinder, die an Drähten hingen). Er stieg dort auf und ab – nahm auf einem Klappstuhl Platz – legte sich auf einer Luftmatratze flach - und hatte Null Einfälle zu dieser Kunst. Er fühlte sich unglücklich und gereizt. Die anderen Besucher schienen friedlich. Ihre Gesichter und Körper passten nicht zu den leeren und aggressiven Objekten.

Am Ende seines Studiums hielt Professorin Dietrich ihm und anderen neu geschaffenen Doktoren und Doktorinnen eine Rede: „Durch Ihre schönen Arbeiten und Ihre guten Prüfungen haben Sie das Tor zu einer größeren Welt aufgestoßen. Sie werden jetzt in die größere Welt hinein gehen. Jeder auf eine andere Art. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie anecken. Ganz besonders wünsche ich das Herrn Quell (damit meinte sie den besagten jungen Mann), dass ihm alles Unbedachte und Ungestüme, zu dem er neigt, verziehen und nicht schuldhaft angerechnet wird. Und jene von Ihnen, die nach München gehen, grüßen mir bitte im Kärntnertor – Theater den Dr. Seyfert! Er gehörte einst auch zu meinen Besten!“

Am Hauptbahnhof in München kam der neue Doktor um Null Uhr an. Er ging vor dem Bahnhof auf und ab, weil sich sein Münchner Freund verspätet hatte. Zwei Bayern in Trachtenhosen stiegen aus einem Bus und brüllten: „Es lebe Videla! Nieder mit den Terroristen!“ - Damit erlebte Dr. Quell einen Moment der Zeitgeschichte aus Dritter Hand. Er wusste nur nicht, was mit dem Wort „Terroristen“ gemeint war. Erst am nächsten Tag, nachdem er in der Wohnung seines Freundes abgestiegen war, sah er im Wartezimmer eines Zahnarztes die Fahndungsbilder deutscher Terroristen an der Wand. Da begriff er die Schreie der Trachtenheinis im Nachhinein.

In München arbeitete er für den Rundfunk. In seiner Freizeit spielte er Publikum für Amateure. Er hörte Lesungen in Galerien und Arien in Stadtsälen. Er verfolgte Kabarett – Nummern in Gasthäusern. Höhepunkt war sein Besuch eines „Wiener Abends“ in einem Kleintheater. Regisseur und Hauptdarsteller war der Freund, der ihm die Wohnung zur Verfügung gestellt hatte. Er trug Strapse über einer Badehose und wollte sich im Stück mit einem Zweiten paaren. Dieser hatte die Rolle eines Fiaker-Pferdes übernommen. Ein Dritter spielte den „Gott aus der Maschine“ und kritisierte mit der Stimme von Bruno Kreisky die Gegner des Kraftwerkes von Zwentendorf („Für mich sind das Rotzbuben und von Rotzbuben lasse ich mich nicht vorführen!“). Nach der Darbietung verlangte der Freund von Dr. Quell, dass dieser eine Rezension des Abends fürs Radio machen sollte. Der Doktor sagte Nein und enttäuschte dadurch ein paar Freunde.

In der Wohnung in München beschlief Dr. Quell eine Jungschauspielerin aus Köln. Das war eine lustvolle und schräge Vereinigung, bei der die Kopulierenden durch die Straßenbeleuchtung in der Straßenmitte beleuchtet wurden. Nach dem geglückten Geschehen fand der Doktor das Blut der jungen Frau auf seinem Bauch, im Bett und auf dem Teppich überall verteilt. Er erschrak ein bisschen über dieses Blutbad, wohingegen das Girl, eine Moderne der 1970 er Jahre, völlig cool blieb. „Was soll‘s!, sagte sie, „Stell dir vor, du und ich, wir haben heute Nacht jemanden geschlachtet!“ - Dadurch schien die Kunstmoderne irgendwie entschuldigt. Das vom Inhalt abgetrennte Reden galt nicht nur in der Kunst, auch im täglichen Leben als ein Akt der Befreiung.

© M.Luksan, August 2023

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