DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
  STARTSEITE


Privatheit aufgeben?

Unsere Kultur kann Wirtschaft, Politik und Alltagsleben nicht beeinflussen, aber sie schickt Conchita Wurst zu Werner Faymann, damit er ihr eine Sachertorte überreicht. Kulturschaffende prägen Begriffe und kündigen Programme an, doch in der Wirtschaft und in der Politik rühren die Verantwortlichen keinen Finger. Auf Kongressen wird applaudiert und auf Stammtischen lacht man über das Dritte Klosett. ZB. das transparente Ich, das kein Privates mehr kennt und sich selber arg bezichtigt (Pädophilie, Tierquälerei und Anthropophagie kommen noch nicht vor) bedient einen kulturellen Trend. Für diesen Trend wird die Scham, die den Menschen verletzlich macht, aufgegeben und ein apartes Menschsein gewonnen. Das gehört – angeblich – zur Humanität dazu.

Das Ich, das der Einzelne zum Leben braucht, wird durch ganz verschiedene Bereiche des modernen Lebens unter Druck gesetzt. Wo überall und wie sehr ist überhaupt nicht untersucht. Doch die Kultur setzt das Ich nicht nur unter Druck, sie stellt es ideologisch in Frage. Die Kritik am Ego – Wahn ist die Kritik an bestimmten Extremen. Als man um 1950 das Hitler – Ich breit diskutierte, wäre niemand auf die Idee gekommen, auch das existentialistische Ich mit abzuschaffen. Heute ist die Technik unerhört differenziert, aber das Denken ist pauschaliert. Mit Hilfe von ganz wenigen Gegensatz – Paaren wird überall Ordnung in das Chaos der Sachverhalte gebracht.

Das Ich soll auf das Selbst zusammen schrumpfen. Ein Weg dorthin ist das Ende der Scham. ZB. ein junges Paar kopuliert öffentlich in einer U – Bahn – Station, anstatt zu Hause in seinem Bett. Das ist gewiss ein mehrdeutiges Phänomen. Das Verhalten ist erstens aggressiv, weil es andere belästigt. Es beendet zweitens ein Geheimnis und macht unverletzlich. Und drittens vermischt es den privaten Raum mit dem öffentlichen. Natürlich gibt es auch keine Scham mehr, wenn sich H. Phettberg im Fernsehen nackt an ein Seil binden lässt, oder wenn F. Schuh in einer Glosse ohne zwingende Notwendigkeit auf seine Fettleibigkeit verweist.

Pariser Familie
Im privaten Kreis - Pariser Familie, 1963

Das Ende der Scham und das Ende der Privatheit hängen offensichtlich miteinander zusammen. Wollte man eine Verschwörungstheorie entwerfen, könnte man eine groß angelegte Strategie vermuten, die das Ziel hat, die Widerstandskraft des Ich zu brechen, damit der instinkthafte Widerstand gegen die Zumutungen der Gesellschaft aufhört. Das wäre die Ausschaltung einer Resistenz, die aus der Scham, dem Stolz, der Würde, nicht eigentlich aus dem Denken kommt. Sowas Teuflisches muss man aber nicht vermuten. Es genügt die Annahme, dass der Einzelne den eigenen Gedanken, die eigenen Vorlieben, nicht sein Eigentum!, aber doch sein geistig Eigenes verlieren soll, damit er lockerer einkauft.

Warum aber soll man Privatheit, basierend auf „the right to be left alone“, aufgeben? Ein alter Römer hätte diese Frage absurd gefunden, doch heute liegt sie nah. Weil Privatheit die Möglichkeit zur Erpressung bietet. Sie ist der Raum, in dem sich der Einzelne unbeobachtet weiß, sodass er sich frei und ungezwungen verhält. Er muss im privaten Kreis normalerweise nicht befürchten, dass Dritte von seinem Verhalten Kenntnis erlangen und ihn deswegen bloßstellen und verletzen. - In der modernen Gedankenwelt spielt Perfektion eine große Rolle. Der Einzelne soll Privatheit verlieren, um nicht durch sich selbst behindert zu sein, wenn er versucht, sich als vollständig zu präsentieren. Damit sind wir wieder beim transparenten Ich, dass behauptet, dass es nichts zu verbergen hat.

Das Private und das Öffentliche sind genau genommen schon seit langem vermengt. Durch den Sozialstaat (der natürlich nötig ist). Wenn er Mängel in der Familie und im Arbeitswesen ausgleicht, nimmt er Daten von denen, die er durch Transferleistungen unterstützt. Doch die Datensammlerei geht weit über eingegrenzte Zwecke hinaus. Sie ist ziellos, maßlos und gigantisch. Nicht nur die Behörden, auch die großen Arbeitgeber und natürlich die Digi – Konzerne sind rasend fleißig dabei, die Daten des Einzelnen zu sammeln. Haushaltsdaten. Einkommensdaten. Verwandtschafts- daten. Gesundheitsdaten. Bewegungsdaten usf. Sie werden entweder direkt erfragt oder indirekt aufgegriffen durch die Spuren, die man durch Telefonieren, Mailen, Chatten und Surfen – im – Internet hinterlässt.

Das naive Ideal „Ich habe nichts zu verbergen“ beruht auf Unwissenheit, über die man aufklären sollte. ZB. Ein mittelständischer Pensionist, relativ gesund, abgesichert und momentan sorgenfrei, glaubt, dass er nirgendwo was zu verbergen hat. Er gibt sein Alter und seine Rüstigkeit an, den Umstand, dass er sein Auto selten verwendet. Daraufhin schließt ihn die Verwaltung von der Mitgestaltung der „neuen Seidenstraße“ aus, die bis nach Wien führen soll. Der Algorithmus hat nämlich festgelegt, dass über 70-jährige, die sich nicht primär durch Auto fortbewegen, gegen neue Verkehrswege Vorbehalte haben.

Wer Bildung hat und sich die Welt um ihn herum bewusst macht, kann für jeden Bereich sagen, was dort die Norm ist und ob er selber diese Norm erfüllt. Soviel Wissen und richtige Selbsteinschätzung ist dem Gebildeten gegeben. Doch er kennt nie (!) die Kontexte, auf die die Daten und also auch der Typ, der er selber ist, morgen schon bezogen werden. Und wenn er dann einem unerwünschten Muster entspricht und ausgeschieden wird, wird dieser Ausschluss zwar irgendwo gespeichert, aber er erfährt nur zufällig davon und kann ihn selber unmöglich löschen. Das ist das alte Grauen, über das die Kafka, Orwell, Kundera geschrieben haben. In Österreich sind solche Ausschlüsse nicht tödlich, aber Datensammlerei erzeugt in jedem Fall irrelevante Personen, sog. marginal men.

Arg soll es in England sein. Dieses Land der Freiheit und der Demokratie hat sich offenbar zu einer Überwachungsgesellschaft entwickelt. Das Gros der Engländer scheint das nicht zu stören, doch der Künstler James Bridle geht herum, fotografiert so viele Kameras wie möglich und malt den Umriss der Überwachungsdrohne auf Gehsteige. Er macht Kunst als Aufklärung. In Frankreich, Deutschland und Österreich ist die Hysterie der Verwaltung offenbar noch nicht gegeben, obwohl auch diese Länder starke Terror – Attacken schon erlebt haben. Allerdings wird die Idee der Einschränkung der Privatsphäre, die ohnehin nur die „kleine Privatheit“ ist, bereits weltweit diskutiert, obwohl Privatheit zu den Grundbedürfnissen des Menschen zählt.

Das Gros unserer kulturellen Sparten verfolgt – durch Aufklärung, Ideologie und künstlerische Darstellung - das ungezügelte Überwachen überhaupt nicht. Die Unterhaltung liefert „Die Lugners“ am Swimmingpool und die Starlets im „Dschungelcamp“, die de facto eine wertlose „privacy“ vor Augen führen. Solche Sendungen dienen erstens einer schädlichen Ideologie und täuschen zweitens Privatheit nur vor. Und die für Aufklärung und für Kunst zuständigen Sparten sind bemüht, die kleine Privatheit und das intakte Ich in Frage zu stellen, anstatt sich die große Privatheit (den privaten Besitz) als einen Hauptgegenstand zu wählen und das Ich des Einzelnen auf die richtige Art zu stärken.

© M.Luksan, November 2021

zurück