DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Wege zur Macht

Historiker beschreiben einen Lebensbeginn unter Betonung des prügelnden Vaters und der Charakter – Mängel des Sohnes. Bis in den Ersten Weltkrieg. Bei 1916 enden sie mit der Aussage: Im Krieg festigte sich sein Charakter, in dieser Zeit wurde er zu jenem Hitler, den es nur einmal gibt. - Beim jungen Stalin arbeitet die Geschichtswissenschaft sehr ähnlich. Auch bei ihm hebt sie bestimmte mentale und geistige Fähigkeiten nicht hervor, als ob sie befürchten müsste, für eine Schreckensgestalt Bewunderung zu wecken. Sie betont auch bei Stalin den gewalttätigen Vater, ferner die schweren Krankheiten und das raue Leben auf den Straßen von Gori, doch plötzlich, nach dem Ausscheiden aus dem Priesterseminar in Tiflis, präsentiert sie Stalin nicht nur als einen Anhänger des fernen Lenin, sondern auch als einen gefährlichen, fast fehlerlos agierenden Gangster. Kein Wort über bestimmte Fähigkeiten, über die hier ein ursprünglich romantischer Kopf verfügte und die er offenbar schnell entwickelte.

Durch Gewalt im Elternhaus kann das narzisstische Spiegelbild entstehen, mit dessen Hilfe die Person die erlittene Demütigung lebenslang kompensiert. Doch der Narzissmus entsteht auch ohne Gewalt durch den Vater. Plausibler ist der niedrige Status der Familie. Bei Hitler wie bei Stalin sinkt die Familie wirtschaftlich zu einem Zeitpunkt ab, wo der Sohn die Einzelheiten des Geschehens schon bewusst erlebt. Der soziale Abstieg ist dann ein größerer Schock als die Prügel. Der niedrige Status erklärt die lebenslange Unverbundenheit der Person mit einer sozialen Klasse oder Gruppe. Stalin misstraute dem Proletarier, Hitler verspottete den Kleinbürger. Ferner durchliefen beide Protagonisten eine Kirchenschule, in der der große, religiöse Ernst dem Schüler das Denken von Pluralität verbietet.

In beiden Fällen weckten weder die Familie noch die Schule beim Einzelnen einen Korpsgeist, eine Loyalität oder eine Solidarität, sie waren – im Gegenteil – der Person zuwider. Werte der Familie und der Schule wurden später für die Öffentlichkeit nur geheuchelt. Sowohl von Hitler wie von Stalin ist der Spruch überliefert, dass man nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernt (auch von Mussolini, der allerdings den Wert von Bildung schätzte). Die Intelligenz, um die es hier geht, hat nichts mit Hochschule oder Universität zu tun, sondern mit aktivem Leben. Sie beinhaltet das rasche Lernen, die Trennung des Wichtigen vom Unwichtigen, das treffsichere Wort und die Fähigkeit, Dinge zu definieren, doch der Einzelne gibt ihr keine Zeit. Er stürzt sich ins Leben und rafft Erfahrungen. Hitler als „akademischer Maler“ in einer Großstadt, Stalin als Agitator im politischen Untergrund einer Provinz. Für das Raffen von Erfahrungen darf die Person nicht furchtsam sein, nicht versonnen, nicht introvertiert usw. Durch das „Herz des Abenteurers“ wird Intelligenz praktisch, entfaltet sie sich nicht im Wust der Sprache und auch nicht im Studierzimmer.

Von Stalin sind härtere Jugendjahre überliefert als von Hitler. Bei ihm gibt es keine Rente und keine Unterstützung durch Familienangehörige. Er taucht in verschiedenen Berufen ganz kurz auf, ehe er wieder im Untergrund verschwindet, wo ihm zunächst niemand ein Entgelt für Werbereden bezahlt. Noch ehe seine Verbrechen beginnen, lebt er von Schuldenmacherei und Erpressungen im Bekanntenkreis, während er unbezahlt die „Arbeit“ eines Aufrührers macht. Anders Hitler, der nach dem Tod seiner Mutter eine winzige Waisenrente bezieht, die er auf keinen Fall verlieren will. Für diese Rente muss er eine feste Adresse nachweisen und einen Beruf angeben. Er nennt sich also „Maler“ oder „Schriftsteller“ und meldet sich lieber im Obdachlosenheim an, als zu riskieren, dass ihn die Behörde an einer angegebenen Adresse nicht antrifft. Auch er genießt nicht die Anteilnahme einer Familie wie zB. Mussolini, dem die Eltern 1902 Geld in die Schweiz nachschickten.

Der Mut für das ungesicherte Leben wird durch den Mut des Psychopathen verstärkt. Dieser hat in der Regel mehr Mut als der sogenannte normale Mensch. Sofern er seelisch überhaupt berührt wird, tritt bei ihm immer gleich der Ausnahmezustand ein. Er muss gewinnen, denn es geht ums Überleben. Das psychopathische Überleben-Müssen, ist beim jungen Stalin mit einer kalten Intelligenz gepaart, die scheinbar von Anfang an da ist. ZB. Simon Sebag Montefiore, der im Übrigen gute Arbeit macht, erklärt nicht, wie Dschugaschwili als Priesterschüler vom Konspirieren im Schlafsaal des Klosters zum listigen Politgangster wird, der sich am besten mit Berufsverbrechern versteht. Hingegen konnte Brigitte Hamann zeigen, wie der junge Hitler seinem chaotischen Leben in Wien dennoch eine Form gab. Er tat es mit Hilfe seiner festen Gewohnheiten, die ihm deutlich bewusst waren und die er konsequent lebte. In einem entbehrungsreichen Leben mit Geldnot und vielen Absteigen und gegenseitiger „Vernaderung“ bei der Behörde (Hitler und Rainhold Hanisch) entstand dennoch ein Charakter.

Hitler und Mitkämpfer 1933
in München (Erinnerungs - Treffen)
Hitler und Mitkämpfer 1933 in München (Erinnerungs - Treffen).

Stalin und Hitler beeindruckten ihre nähere Umgebung, lange bevor sie die Massen beeindruckten. Man behauptet nichts Falsches, wenn man sagt, dass das soziale Leben ihrer Zeit und dessen Abbild in der Öffentlichkeit ihren Typus grundsätzlich akzeptierte. Und heute? Ein ichbezogener und verschlossener junger Habenichts, der von sich sagt, dass er „erleuchtet“ sei, findet Null Akzeptanz. Doch in kriegerischen Zeiten, die aus banalen Gründen den heldischen Mann feiern, der sein Leben dem Kampf für ein Ideal widmet, konnte dieser Typus selbst dann nicht abgelehnt werden, wenn man ihn privat unsympathisch fand.

Es wird sich nie ganz zeigen lassen, wie sich Hitler und Stalin in ihren Gruppen konkret durchgesetzt haben, doch wie sie in ihren Gruppen sichtbar auftraten, ist vielfach dokumentiert. Vor 1920 konnte Hitler nirgendwo schreiend, mit der Reitgerte wippend, unnahbar und herausgeputzt auftreten. Doch die Fotos aus der Zeit der Anfänge der NSdAP zeigen ihn mit gepflegtem Bärtchen, starrem Blick und hoheitsvoller Haltung. Im Unterschied zu ihm wirkt Stalin nie herausgeputzt, fast ungepflegt, seine Haltung ist nicht forciert und er gibt seinem Gesicht keinen Ausdruck. Auch für die Zeiten seiner absoluten Macht ist sein Understatement gut dokumentiert. Er konnte nicht wie Hitler eine schon bestehende Hierarchie für sich benutzen, er musste sich in Kampfgruppen, bestehend aus unterschiedlichen Mitgliedern, durchsetzen. Er trat meist als stiller Beobachter und stiller Befehlshaber in der Gruppe auf, dem jedoch der Ruf der Grausamkeit vorauseilt. Diesen bestätigt er nicht durch Schreien oder durch anderes, symbolisches Verhalten, sondern durch neue Grausamkeiten. Hitler aber musste seinen Machtwillen (und seine Macht) ständig symbolisieren. Er musste den Rabauken spielen, um den Rabauken in seiner Gruppe zu gefallen. So erhält die an Otto Ballerstedt verübte Körperverletzung von 1921 einen tieferen Sinn. Hitler saß dafür einen Monat lang im Gefängnis.

Missliebige oder Verräter hat Hitler früh erkannt, hatte aber anfangs nicht die Macht, die betreffende Person auszuschalten. Außerdem respektierte er die deutschen Behörden. 1918 musterte er als Soldat nicht ab, sondern war ein bezahlter V – Mann der Reichswehr bis Ende 1920. Er bespitzelte Soldatenräte, die er auch verriet. Der Respekt vor Behörden fehlte Stalin gänzlich. Er muss sich im Untergrund wie ein Fisch im Wasser bewegt haben, weil er ganz rasch ein Überprüfer war, der zB. neue Bandenmitglieder in einen Hof führen ließ, wo er von einem Fenster aus das Verhalten der wartenden Männer studierte. Die Forschung nimmt an, dass er kein Spitzel der Ochrana war, doch sollte diese Frage angesichts seiner milden Haftstrafen und seiner letzten Sibirien – Verbannung, die er als privilegierter Häftling nahe des Polarkreises zubrachte, offen bleiben.

Die ersten, von Stalin angeordneten Morde betrafen tatsächliche und vermeintliche Spitzel in seiner Kampfgruppe. Ein derartiger Mord wurden in der Parteiwelt der Bolschewiki immer schon als die Lösung eines Sicherheitsproblems versachlicht. ZB. bei einem Raubüberfall, der Unbeteiligte in Mitleidenschaft ziehen konnte, wurde die Sicherheitsfrage immer einseitig am Überleben der Bande berechnet. Das hat der Staatsmann vom Gangster später übernommen, dass die Sicherheit des engsten Kreises der Sicherheit der Bevölkerung vorzuziehen ist, und dass der Sicherheit des Einzigen, der man selber ist, am Ende die Mitarbeiter geopfert werden.

Stalins Überfall auf den Geldtransport in Tiflis 1907 ragt unter ähnlichen Raubmord – Verbrechen total hervor. Die Sicherheit für die Bande erhöhte die Opferzahl. Über vierzig Tote, weil gleich zehn Sprengsätze unter die Pferde einer gepanzerten Kutsche und unter die Pferde der Kosakenwächter geworfen wurden. Nach den Explosionen schossen die als georgische Bauern verkleideten Banditen die Noch-Lebenden tot und nahmen das Gros der Geldsäcke an sich. Der Clou war, die Kutschenwächter und die Bankbeamten nicht in der Bank zu überfallen und zu entwaffnen, um so die Zivilisten am Platz und die Pferde zu verschonen, sondern den größtmöglichen Tumult zu schaffen. Das ist geglückt. Die erschrockenen Wächter in der Bank liefen zu den toten und verwundeten Kosaken hin und wurden in ein Gefecht verwickelt. Diese Abläufe dachte sich Stalin in einer Wohnung aus, fünf Minuten vom Platz entfernt, wo er selber mit seiner Frau und einem neugeborenen Kind lebte. Er plante und probte diesen Überfall in einem Zeitraum von sechs Monaten.

Beim Überfall in Tiflis war Stalin für Lenin bereits so wichtig, dass man ihm die Teilnahme an der Durchführung wahrscheinlich untersagt hatte. Eine spezielle Furchtsamkeit des Josef Dschugaschwili ist nicht bekannt. Hitler verfolgte Stalins Schritte erst in den 1920 er Jahren, vielleicht angeregt durch Alfred Rosenberg, der in seiner Zeitschrift „Der Weltkampf“ die Maßnahmen der Bolschewiki gegen ihre Bevölkerungen empört, aber auch fasziniert anprangerte. Die Paranoia Stalins war früher entwickelt als jene Hitlers, auch die Methoden der kollektiven Unterdrückung waren in Russland früher da. Dennoch ist der Gedanke von Ernst Nolte auf infame Weise falsch, die russischen Gräuel hätten Hitler erschreckt und angespornt zugleich, sodass aus ihm ein Nachahmungs- und ein Präventivtäter geworden wäre. Der NS hat höchsteigene Destruktivität entfaltet.

In jungen Jahren versuchten Stalin und Hitler so viel wie möglich zu erleben. Das Turbo-Leben bekamen sie gar nicht satt, denn sie machten selbst im größten Stress ihre goldrichtigen Beobachtungen. Zu dieser Begabung, durch Leben besonders schnell zu lernen, kam die spezielle Spielernatur hinzu. Sie machten – wie Spieler – immer wieder Einsätze mit Haut und Haar, bei denen sie aber nicht blind, sondern überlegt handelten (die kleinen Fehler fürchteten sie am meisten). Im Kreise ihrer engsten Mitarbeiter propagierten sie ihre Wahnsinnseinsätze als unbedingt nötig. Sie mussten auch bei großem Risiko durchgeführt werden. Die Brutalität der Durchführung wurde durch eine tiefe, innere Überzeugung dieser Jahrhundertmörder gerechtfertigt, dass nur der Mann, der seine Selbstliebe und seinen Hass auslebt, der wirklich freie und ganze Mann sei (der Unfug der Antidekadenz, etwa 1880, stammt aus einer zeitungshaften Ideologie).

Stalin und Hitler totalisierten auch ihr Leben, um es zu mythisieren, und verbanden das mit Rache. Hitler ließ zB. Martin Bormann nach Reinhold Hanisch suchen, aber dieser war schon verstorben. Ballerstedt, der Hitler ins Gefängnis gebracht hatte, wurde ermordet. Stalin ließ Widersacher aus seiner Zeit in Georgien ausforschen und umbringen. Sobald Stalin und Hitler die alleinige Macht in Händen hatten, wollten sie durch noch mehr Macht nicht nur die Kontrolle vergrößern, sondern auch in alle Lebensbereiche der Menschen eingreifen - um diese zu verändern. Ihre Anhänger durften dann Alles, was der Führer gebot, mit rechtfertigen, und durften Alles, was das System kontrollierte, mit kontrollieren, doch sie hatten kein Handeln mehr, das sie vorher selbst beschlossen hatten. Dieses letztere Kapitel ist gut bekannt. Unter dem Titel „Der neue Mensch“.

Stalin und Mitkämpfer 1936 in Moskau (Kongress)
Stalin und Mitkämpfer 1936 in Moskau (Kongress).



© M.Luksan, Jänner 2020

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