DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Vorwurf an die Kultur

Weil die Wirtschaft so sonnenklare Interessen hat, versteht man gut, dass Wirtschaftsleute über die negativen Aspekte von Profit, Wachstum und freier Marktwirtschaft nicht reden wollen. Nicht in der Öffentlichkeit. Dort wollen sie die Kritik dieser Begriffe in Zeitungen, Stücken, Songs und Filmen nicht abgehandelt haben. Die Fachwissenschaft mag wirtschaftliche Dominanz kritisieren, doch die Einwände soll man nicht als Redensart, als Witz, als Allgemeinbildung in allen Köpfen vorfinden. Kann man das der Wirtschaft verdenken? Nein. Anders ist es mit der Kultur selbst, die sich zur Erleichterung, zur Belehrung und zur Entfaltung des Menschenlebens eingerichtet hat. Ein deutscher Schauspieler moderierte einst Fernsehspiele mit dem Titel „EWG – Einer wird gewinnen“. Er war ein tätiger Verkünder des humanen Umgangs, warb aber für das Europa der Konzerne. Später erfanden Werbemenschen den Spruch „Geiz ist geil“, natürlich nicht für die Entfaltung des Menschen. Und mit dem Wort „Resilienz“ schufen Humanwissenschaftler den Begriff der Selbstausbeutung für den Kommerz der anderen.

Schon in den 1970ern wurde die Ideologie der Intimität durchschaut. Man hat ihr aber nichts entgegengestellt, die Kultur ließ es offenbar nicht zu. Kritische Soziologen haben beschrieben, wie der Abbau des Rollenverhaltens nicht nur Aufrichtigkeit und Nähe ermöglicht, sondern auch das Zwischenmenschliche schwächt und unter Umständen zur Hölle macht. Dennoch haben sich die Kulturbereiche in der wertlosen Behauptung überboten, dass alle Übel im Sozialen in der Anonymität und im kalten Herzen wurzeln. In Wahrheit verlangt der soziale Kontakt beides: Spontaneität, Direktheit und Selbstoffenbarung, aber auch Selbstdisziplin, Rollenspiel und persönliche Diskretion. Diese alte Weisheit haben die Verkünder der Intimität auf den Mist geworfen. Sie haben in der Politik, in der Kunst und im sozialen Alltag ein neues Spiel eröffnet und neue Kommerz-Wege erschlossen.

Ein Opfer der neuen Nähe wurde ein introvertierter, österreichischer Lehrer, der zu seinen Lehrverpflichtungen am Vormittag hinzu auch Nachmittagsbetreuung übernahm. Da konnte er sich nicht mehr hinter der Rolle des Fachlehrers verstecken, sondern musste bei den halbwüchsigen Kindern auch Ballspiele und körperliche Wettbewerbe leiten. Für diese Tätigkeit war er ungeeignet. Er konnte mit der Respektlosigkeit der Jungen nicht umgehen, verlor in Turnsälen und auf grünen Wiesen seine Autorität. Seine Nerven brachen zusammen, in einem Supermarkt konnte er nicht mehr sprechen. Er wurde ins Spital eingeliefert und saniert. Die Sache ging glimpflich aus, er ging in Frühpension.

Dem Lehrer wurde außerhalb des Klassenzimmers eine Nähe vorgeschrieben, die ihm nicht möglich war. Diese Nähe kann auch in einer U–Bahn aufbrechen und dort von jedermann ein Verhalten erzwingen, das man gar nicht verlangen darf. Eine nackte Frau geht durch den U-Bahn-Zug, hinter ihr der Fotograf, und er nimmt weniger die Frau als die Gesichter der Passagiere auf. TV besteht heute aus solchen Einfällen. In manchen Zeitungen betet man die Befreiung eines unklaren Inneren an, im Glauben, der soziale Kontakt wäre umso echter, je frecher man nach dem Kern der fremden Person greift, in jenem Fall nach der Sexualität.

Während der Einzelne sein Privates verlieren soll, verbreitet sich die begründete Angst und erhält keinen kulturellen Ausdruck. Ein amerikanischer Autoverkäufer verlor seinen Job in einem Autohaus. Er lebte weiter mit seiner besser ausgebildeten Frau. Diese hat einen Abschluss in Pharmazie und trat in die Forschungsabteilung eines Konzerns ein. Durch das unterschiedliche Einkommen ging die Ehe in die Brüche. Die Frau ließ sich scheiden und der Ex-Verkäufer verließ als Schuldig-Geschiedener die gemeinsame Wohnung. Er quartierte sich in einem Neubau ein, wo die Miete ständig erhöht wurde. Nach einem Jahr zog er aus und schläft nun in seinem Auto, das er auf großen Parkplätzen abstellt. Da schlafende Obdachlose manchmal überfallen werden, schläft er mit dem Revolver unter dem Sitzpolster.

Disney Schloss und Mitarbeiter Foto
Kultur als reines Geschäft.

Der Rechtspopulismus hat die Angst dieses Arbeitslosen abgebildet. Er hat damit Hetze erzeugt, keine anerkannte Kultur. Er verband das Bild des weißen, obdachlosen Mannes in dem Auto mit dem Bild der illegalen Einwanderer, die man nahe der Grenze aufgegriffen und gesammelt hatte. Illegale Einwanderung, so die Erklärung, kostete diesem Amerikaner, der in seinem Auto wohnt, den Arbeitsplatz. Das war eine unbewiesene und auch unplausible Behauptung, weil mexikanische Einwanderer in der Regel keine Facharbeiter sind. Die alte, kaum noch verwendete Erklärung ist wesentlich plausibler. Sie spricht von einer Krise der marktwirtschaftlichen Produktion, der zufolge sich die Stückzahl der Autos und die Zahl der Autoverkäufer verkleinert hat. Durch die Zunahme der Ehescheidung bei verarmten Familien ist die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt respektive der Grundstückspreis gestiegen. Diesem Gedankengang steht heute die neueste Philosophie im Wege. Diese besagt, dass nicht nur das Wesen die Erscheinungen bestimmt, auch die Erscheinungen das Wesen beeinflussen. Das klingt vernünftig, ist es aber nicht. Die Wechselseitigkeit wird nur durch Gedankenspiel gewonnen. Trotzdem wendet man diese neue Interdependenz auch auf den Fall des Autoverkäufers an. Etwa so: Der Verkäufer ist ein mangelhaftes und massenhaft vorkommendes Subjekt, das durch die Fülle seiner Mängel den Rückgang der Autoverkäufe und alles Übrige bewirkt hat. Hier hat dann keine objektive Logik, sondern das Subjekt selber, nicht das Wesen, sondern die Erscheinung, die allgemeine Malaise bewirkt.

Der Vorwurf an die Kultur lautet also, dass sie existentielle Angst und existentiellen Druck vom Einzelnen nicht wegnimmt, sondern all dies – mit naturwissenschaftlicher Lässigkeit - übersieht und den Menschen stattdessen zurecht modelt für den nächsten und neuesten Kommerz. Bei der Modernen Kunst kann man die ungute Prinzipienreiterei besonders gut verfolgen. Ein österreichischer Bildhauer wurde als großes Talent in die Akademie aufgenommen. Nach einem Jahr erhielt er die Chance, in die Klasse eines Weltberühmten aufzusteigen. Er zeigte seinem Freund, der schon Mitglied in dieser Meisterklasse war, einen Jüngling in Stein, den er fertig gestellt hatte. Dieser war ein wenig wie der „David“ gearbeitet, aber ohne naturalistische Details. Der Freund sah das und wurde nachdenklich. Am Ende empfahl er dem künftigen Novizen, auf Gegenständlichkeit ganz zu verzichten. Der junge Bildhauer hielt sich daran und erzeugte lebenslang nur Kuben, solche mit und solche ohne Löcher, bis er plötzlich mit 69 Jahren, er war nicht so berühmt geworden wie sein Lehrer, lauter Männer, Frauen und Liebende in der Art des einstigen Jünglings gestaltete. Er lebte die Aufrichtigkeit des Künstlers erst im Alter aus. Mit Hilfe der Aufrichtigkeit muss er nicht mehr darauf achten, was die Kunstöffentlichkeit über ihn sagt.

Auch wenn Kultur nicht nur die „Sprache“ schafft für alle Erfahrungen des Menschen, sondern auch die für künftige Erfahrungen, die der Mensch noch nicht gemacht hat, soll sie den Umbau des Menschen nicht selbst betreiben. Das wäre was für eine Partei - für Kulturpolitik. Der Umbau geschieht durch Politik, durch sozialen Alltag und durch die Wirtschaft. Erleichterung, Belehrung und Entfaltung des Menschenlebens, Funktionen, die ja noch gelten!, soll die Kultur nicht selbst blockieren. Wenn die Wirtschaft das macht, soll sich die Kultur kritisch melden. Darum sollen Theater, Film, Literatur und Philosophie den Mut zur Wahrheit nie verlieren, indem sie z.B. zeigen, dass man Nähe nicht einseitig leben kann, oder dass man bei Angst unbedingt den Kontext mitbehandeln muss oder dass die Freiheit der Kunst nur beim Künstler liegen kann, und nicht auch woanders. Das sollten die Kulturbereiche sagen und darstellen, sogar dann, wenn sie dadurch die geschäftliche Ausbeutung eines Produkts ungewollt behindern.

© M.Luksan, November 2019

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