DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Prinzipielle Mängel der Berichterstattung

Durch Wiederholung kann ein Medium die Bedeutung eines Sachverhalts riesenhaft vergrößern. So berichtete der ORF 2006 über den Zustand des Wachkoma–Patienten Ariel Scharon, über eine Woche lang. Plötzlich ließ er diese erste oder dritte Nachricht im „Mittagsjournal“ wie eine heiße Kartoffel fallen, nicht in einen Vorratstopf für Nachrichten, sondern in den Strom des Vergessens, und man hörte nie wieder etwas von Scharon im Spital. Alle Nachrichten-Empfänger, denen man den Gesundheitszustand einer Einzelperson interessant gemacht hatte, hörten nichts mehr von dem schwer erkrankten Mann. Journalisten erklärten jetzt alle Nachrichten in dieser Sache für langweilig, die sie eben noch als weltbewegend eingestuft hatten. Scharon vegetierte noch neun Jahre lang als Komapatient, dann verstarb er.

Im Unterschied zu diesem Fall ist der Brexit eine wichtige Nachricht. Die Informationen sind dem Ausmaß des Ereignisses und seiner Folgen angemessen und sie führen auch - sehr im Unterschied zum Fall Scharon – zu einer Meinungsbildung. Und doch ist die Dauerberichterstattung über die „Situation nach dem Brexit“ eine journalistische Übertreibung, weil der definitive, der irreversible Austritt Englands aus der EU noch gar nicht durchgeführt ist. Was wäre, wenn die Engländer im Zuge der totalen Schwächung der Brexit–Betreiber und einer geschickten Brüsseler Politik letztlich in der EU verblieben? Das wäre ein Witz der Geschichte.

Viele Journalisten - man will hier nicht von „Mehrheit“ oder „Minderheit“ reden – neigen zur Behauptung von Überraschung. Das hängt damit zusammen, dass journalistische Berichte mehr Aufsehen und mehr Geld bringen, wenn die Neuigkeit auch als das Unerwartete gilt. Doch es ist irreführend und führt zum Misston, wenn überall die Überraschung behauptet wird und zum Hauptgewürz der Berichte wird. Die echten Überraschungen sollte man genau begründen. Geschähe dies, wäre die Überraschung nicht verschwiegen, aber der aufgeregte Tonfall würde fehlen.

Der heutige Journalismus hat eine viel größere Wissensbasis als zB. der um 1900. Aus diesem Grund trifft heute der alte Vorwurf von Karl Kraus generell nicht zu, dass der Journalismus reale Sachverhalte poetisch umschreibt (wobei er dann – wie die Dichtung - das Erfundene einflicht). Doch an die Stelle des Übermaßes von dichterischer Rhetorik ist ein anderes Übermaß getreten. Die Journalisten überschätzen Umfragen und Messdaten. Medien selbst geben Umfragen in Auftrag in der Hoffnung, über eine neue Lage berichten zu können. In diesem Sinn darf man die Umfrage der „NÖN“(St. Pölten) verstehen, bei einer Stichprobe von 600 Personen. Die Studie präsentierte ein gewünschtes Ergebnis, dass nämlich 41 Prozent der Befragten eine ÖVP mit Sebastian Kurz an der Parteispitze wählen würden, aber nur 22 Prozent eine von Reinhold Mitterlehner geführte Volkspartei. Diese Umfrage wurde als Feststellung gehandelt und hat den Abgang des armen Mitterlehner beschleunigt.

Roland Barthes circa 1970
Aufregung - informell - im Hohen Haus, Wien 2011.
Von links nach rechts: Josef Cap, Eva Glawischnig, Heinz-Christian Strache,
Karlheinz Kopf, Werner Kogler, Barbara Prammer, Josef Buchner, Peter Westenthaler.

Sebastian Kurz ist der gewichtige Netzwerker und luftige Minister, der zurzeit eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung genießt als der ebenfalls stromlinienförmige SPÖ– Kanzler. Das hat mit der von den Medien behaupteten „neuen Lage“ zu tun. In diese fügt sich der einunddreißigjährige Politiker mit seiner „Neuen ÖVP“ und anderen Fantasien besser ein als Christian Kern mit seiner alten SPÖ und dem alten Streit zwischen Ja oder Nein zur FPÖ. Die ÖVP war in dieser Hinsicht klüger, sie hat sich keine Koalitions-Doktrin verordnet. Jetzt können ihre Funktionäre dem Vorstand nicht dreinreden, er hat bei Koalitionsbeschlüssen freie Hand.

Die heutige Aufhebung des alten Parteibeschlusses, mit den Freiheitlichen keine Regierung zu bilden, erscheint in den österreichischen Medien als eine Riesenzäsur. In Wahrheit hatten sich das Gros der Funktionäre und das Gros der Wähler von der „Vranitzky Doktrin“ seit geraumer Zeit innerlich verabschiedet. Die Medien erklärten diese Doktrin übergenau, sie fokussierten Aufmerksamkeit auf den 14. Juni 2017 und erhoben da und dort sogar einen Ordnungsruf an den Kanzler. Christian Kern müsse eine „glasklare Linie vorgeben“, wenn er nicht den „Schlüssel zum Kanzleramt übergeben“ wolle (Österreich, 13.06.17) Dieser „Vernunftanweisung“, die mit analytischer Ratio nichts zu tun hat, hat Kern durchaus entsprochen, als er an dem besagten Parteitag von seiner neuen Linie gegenüber der FPÖ sprach. Die Partei werde von nun an ihre „Identität“ nicht mehr aus der Ablehnung der FPÖ beziehen.

Übertreibungen, wohin das Auge blickt. Der Journalismus inszeniert und dramatisiert. Er legt sein Hauptgewicht zu wenig auf nüchterne Darstellungen und wo doch, macht er sie durch den Einsatz von zeitgeschichtlichem Gedächtnis nicht spannend. Anstatt eine bereits abgelebte Konvention zu einer Schicksalsfrage zu stilisieren, könnten die Medien zB. die Herbeiführung der Neuwahlen von 2017 durch S. Kurz mit der gleichen Aktion von W. Schüssel 1995 vergleichen. Die damalige Brachialtaktik führte die Volkspartei in eine Niederlage, ohne dass diese dem riskanten Schüssel politisch Kopf und Kragen gekostet hätte (eine nachlässige SPÖ!). Ist S. Kurz ein zweiter Schüssel? Darüber würde man gerne etwas lesen, doch diese Frage ist den Journalisten offenbar zu historisch.

Man würde gerne eine Background–Geschichte zu einer öffentlich wichtigen Person zeitgleich mit ihrem Höhenflug lesen und nicht erst dann, nachdem sich das Blatt des Mächtigen zu seinen Ungunsten gewendet hat. Man wäre dankbar, wenn eine Andeutung zu Tal Silberstein im selben Artikel noch eine Ausfüllung fände. Das hat wohl mit fehlendem Mut zu tun, dass man diesen Wahl–Berater von Kern als ehemaligen Geheimagenten und heutigen Geschäftsmann, der in Rumänien in große Korruption verstrickt ist, nicht genauer beschreiben mag… Vernunft - Unaufgeregtheit - Vollständigkeit der Nachrichten – das erwartet man vom Journalismus. Und man hält das für eine vernünftige Forderung, ohne zu wissen, ob sie nicht sehr naiv ist.

© M.Luksan, Juni 2017

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