DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Das Ich mitteilen

Menschen, die extreme Lagen überstanden, wissen in der Regel gut, wer sie sind. Sie teilen aber selten ihre extremen Erfahrungen optimal mit. Auch jene Wild – Bewegten, von denen man glaubt, dass sie viel Selbstreflexion geübt haben, sagen oft fast nichts. Die Täter sind noch sprachloser als die Opfer. ZB. Jack Unterweger fand, dass sein erster Mord eine „Affekthandlung“ gewesen war, obwohl er einen in die Länge gezogenen Sexualmord begangen hatte. Und Helmut Frodl, der Filmregisseur, der einen Mord von langer Hand geplant und blutig hatte verbergen wollen, fand für seine Wahnsinnstat nur das Wort „Kommunikationsabbruch“.

Sehr gescheite und kreative Köpfe aus dem philosophisch-literarischen Bereich, wählten für einen Abschnitt ihres Lebens oder für ihr ganzes bisheriges Leben nur blasse Worte. „Ich lebte“, schrieb Albert Camus, „in beschränkten Verhältnissen, aber auch in einer Art Genuss. Ich verspürte unendliche Kräfte in mir und musste nur herausfinden, wo ich sie einsetzen konnte“ (A.C., Licht und Schatten, In: A.C., Kleine Prosa, Reinbek 1961, S. 31) Er konnte oder wollte offensichtlich nicht konkreter werden. Und Jean-Paul Sartre schrieb am Ende eines nobelpreisgewürdigten Buches: „Ich behaupte in aller Aufrichtigkeit, nur für meine Zeit zu schreiben, aber meine jetzige Berühmtheit geht mir auf die Nerven, denn ich lebe ja“ (J.-P. S., Die Wörter, Reinbek 1965, S. 195) Er fand es richtig, eine Unlust schaffende Berühmtheit nicht zu erklären, sie als selbstverständlich vorauszusetzen.

Ab 1990 fingen die Promis damit an, dass sie eine abweichende und tabuisierte Eigenheit öffentlich einbekannten. ZB. Abhängigkeit von Kokain, Homosexualität, Freude an Faustfeuerwaffen usw. Sie taten das, um ein welkes Image aufzufrischen. Das konnten sie durch die Mitteilung einer Tugend nicht bewirken, das hätte den Eindruck von Angeberei vermittelt, es musste schon eine Schwäche sein. Dieses „Outing“ war natürlich nichts Neues. Schon zwischen den Weltkriegen, als jeder Einzelne noch im Schatten von Weltpolitik stand und insofern sein Ich nicht beliebig ausbreiten konnte, outete sich der Völkerkundler und Literat Michel Leiris in einem Prosawerk. „Einige Gesten“, schrieb er, „waren oder sind mir eigen: meinen Handrücken beschnuppern; meine Daumennägel fast bis aufs Blut kauen; den Kopf leicht zur Seite neigen; die Lippen zusammenkneifen und die Nasenflügel mit einem entschlossenen Ausdruck einziehen; plötzlich mit der flachen Hand an meine Stirn schlagen (…); meine Augen hinter meiner Hand verbergen, wenn ich gezwungen bin, auf etwas zu antworten, das mich in Verlegenheit setzt; wenn ich allein bin, mir die Analgegend zu kratzen; usw.“ (M.L., Mannesalter, Frankfurt/M. 1975, orig. 1939, S. 24) Schon an der Sprachform des Ganzen wird die Aporie ersichtlich. Je länger die Aufzählung solcher Eigenheiten ist, desto größer ist die Zahl der weiteren Fragen nach dem realen Monsieur Leiris, die allesamt offen bleiben.

Niemand kann behaupten, dass ein Autor oder eine Autorin über die Sprache und die Zeit verfügen, das eigene Ich vollständig mitzuteilen. Es ist aber eine große Durchmischung zu sehen, bei der sich Literatur, Journalismus und Autobiografie gegenseitig durch- dringen und die Damen und Herren Gestalter die Möglichkeit erblicken, das Ich gleichsam im Rohzustand darzubieten. Nicht distanziert und künstlerisch bearbeitet als ein kleines Stück Poesie, sondern als ein Originalzitat aus dem Innenleben, das der Leser deuten soll.

In einem Sprechakt kann die Ichmitteilung bereits dadurch gelingen, dass der Sprecher den Schauspieler seiner selbst aktiviert. Die Überzeugungskraft verbraucht sich hier im Moment, die Falschheit der Mitteilung kann erst hinterher erkannt werden. Beim geschriebenen Wort läuft der Vorgang kühler ab, der Leser kann nicht überrollt werden und die Echtheit des Ich lässt sich eo ipso nicht behaupten. Der Autor muss seine Eigenheiten in ineinander greifenden Sätzen ausbreiten und muss dabei überall zutreffend formulieren. Früher wurde für die Ichmitteilung der fiktive Erzähler eingesetzt, heute spricht der Autor mit eigener Stimme. Außerdem warnt er den Leser davor, der Selbstenthüllung Glauben zu schenken. Denn auch er, der Autor, sei schließlich nur ein Mensch, ein Lügner, ein Spaßmacher, wie alle andern auch. So muss letztlich der Leser entscheiden, ob er das Geschriebene ernst nehmen will oder nicht.

Die meisten Leser wählen, wenn sie zwischen der Wahrheit der Darstellung und dem brillanten Sprachspiel die Wahl haben, das Gewicht der Fantasie. Deswegen gewinnt in der Bekenntnisliteratur jener Autor oder jene Autorin, die sich in ihrem sozialen Umfeld beschreiben. Sie machen dadurch ihr Ich konkret und auch verständlich. Friedrich Christian Delius, Autor und Ex-Lektor (Wagenbach), hat sein Ich im Literaturbetrieb beschrieben und es dadurch verbindlicher gemacht als zB. das auf Intimitäten bezogene und trotzdem märchenhafte Ich des Monsieur Leiris. Leider hat er auf die Kunst vergessen. „Ich sah diesen Augen an“, schreibt er über einen Blick von Erich Fried, dass sie mich durchschauten, sie durchschauten in diesen Sekunden den ängstlichen, ehrgeizigen Jüngling, der ich war (…) Wer bin ich denn, ein Urteil zu fällen? Ein Urteil über Fried, ein Urteil über sein Prosabuch, Urteile über andere Autoren, andere Bücher, über wen oder was auch immer. Wer bist du denn? (…) Ich beneidete sie nicht, die mächtigen Männer mit der richterlichen Gewalt und der extrovertierten Klugheit. Keiner von ihnen, schätzte ich, hätte sich von der Frage irritieren lassen, die ich in Frieds Blick gelesen hatte, Wer bist denn du, ein Urteil zu fällen?“ (H.C.D., Als die Bücher noch geholfen haben, Berlin 2014, S. 34, 35, 36)

So wird bei Delius zwar ein wahrhaftiges, aber auch ein ödes Ich sichtbar. Das mitgeteilte Ich ist öde, Delius selbst ist vermutlich spritzig. Statt eine poetische Form für sein Ich zu finden, hat der Autor sein Ichgefühl moralisch und aus großer zeitlicher Distanz beschrieben („Ich beneidete sie nicht, die mächtigen Männer“ – damals wird er sie wohl beneidet haben). Ein anderer - als Journalist weltbekannter - Autor, verfehlt sein vermutlich interessantes Ich durch die Betonung seiner Heldenaufgabe. Diese erfüllt er als Mafia – Aufdecker. Roberto Saviano arbeitet in Carabinieri – Kasernen und in wechselnden Wohnungen, hat Personenschutz und wird vom italienischen Staat hoffentlich gut beschützt. „Dieses Buch“, schreibt er, „ist für alle, die meine Worte aufgegriffen, sie an Freunde und Verwandte weitergegeben und sie in die Schulen getragen haben. Alle, die in der Öffentlichkeit daraus zitiert und damit zum Ausdruck gebracht haben, dass mein Anliegen zum Anliegen aller geworden ist, weil meine Worte in aller Munde sind. Ihnen allen gilt mein Buch, denn ich weiß nicht, ob ich es ohne sie geschafft hätte, weiterzumachen, Widerstand zu leisten“ (R.S., Die Schönheit und die Hölle, Berlin 2010, S. 18) Er analysiert in keiner Weise, warum er seine lebensgefährliche Tätigkeit begann – die Hoffnung auf den Dank eines Publikums wird es nicht gewesen sein.

Bob Dylan und Joan Baez 1965

Im Rohzustand sagt das Ich zu wenig oder zu viel aus, darum wird es kommentiert. Die vielen Kommentare zerreden die Qualität des Ichgefühls oder fügen im Nachhinein eine Qualität hinzu, die ursprünglich nicht gegeben war. Warum also nicht mit Hilfe der Kunst die wichtigste Bedeutung schneller finden?! Bei Ichqualitäten sollte man nicht ausschließen, dass die Kunst sogar die Wissenschaft übertrifft, insofern sie das Wesentliche, das das Notwendige ist, intuitiv erkennt und auf engem Raum, gleichsam auf den Punkt hin, darstellt. Peter Handke hat das noch gekonnt. Er war fähig, das Subjektive in Richtung Typik zu überwinden, zB. in seinem Erinnerungsbuch über seine Mutter. „Noch immer“, schrieb er, „wache ich in der Nacht manchmal schlagartig auf, wie von ihnen her mit einem ganz leichten Anstupfen aus dem Schlaf gestoßen, und erlebe, wie ich mit angehaltenem Atem vor Grausen von einer Sekunde zur anderen leibhaftig verfaule. Die Luft steht im Dunkeln so still, dass mir alle Dinge aus dem Gleichgewicht geraten und losgerissen erscheinen. Sie treiben nur eben noch ohne Schwerpunkt lautlos ein bisschen herum und werden gleich endgültig von überall niederstürzen und mich ersticken.“ (P.H., Wunschloses Unglück, Frkf.M. 1975, S. 99) Der findige Dichter hat das durch Bluthochdruck oder Restless Legs oder sonstwas bewirkte Aufwachen poetisch gut beschrieben. Er hat außerdem diese Angst und diese Panik mit dem Gedanken an den Freitod seiner Mutter verknüpft. Das ungute Aufwachen und der Gedanke an den Tod der Mutter könnten getrennt geschehen sein. Das wäre egal, denn es spricht nicht gegen die von Handke angewandte Kunst, das Typische mit dem Einmaligen zu verbinden.

© M.Luksan, Jänner 2017

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