DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Die Perspektive des Unbestimmten

Ein geglückter Roman, der in keiner Gummizelle entstand, kann die Kultur einer ganzen Epoche durch eine einzige Figur wunderbar verdichten und erklären. ZB. Jake Barnes aus „Fiesta“ (Hemingway) erklärt ausführlich den Sarkasmus der jungen Kriegsteilnehmer nach 1918, oder Holden Caulfield aus „Fänger im Roggen“ (Salinger) verdeutlicht die Unsicherheit der Halbwüchsigen nach 1945, die von ihren Eltern allein gelassen werden. Die Literaturwissenschaft erkennt an diesen Beispielen, dass sie nicht absolut werten darf, denn jede Figur bleibt auf ihre Zeit bezogen.
Die Literaturkritik könnte diesen Grundsatz übernehmen und gleichwohl ihre Subjektivität entfalten. Sie glaubt aber, dass sie durch Vernunft ihre Sonderstellung zwischen Wissenschaft und Kunst verliert. Und ganz unrecht hat sie damit nicht. Sie ist heute dümmlich subjektiv und marktschreierisch dazu. Es gab einmal eine Kritik, die über Hemingway sagen konnte, dass er über die Möglichkeiten des Heroischen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Bescheid wissen wollte, und über Faulkners Figuren formuliert hat, dass diese entweder von der Gesellschaft oder von der dunklen Seelenkraft vernichtet werden. Das waren philosophische Aussagen, mitten in einer Rezension.
Für den Roman „Tschick“, der durch die Sprachbegabung seines Autors ein Interesse weckt, hat die Kritik auf geistvolle Deutung weitgehend verzichtet. Auf den zwei Seiten, die der Rowohlt Verlag dieser Prosa voranstellte, findet der Leser nur klappentext-artige Formulierungen: „Man sieht die Welt mit anderen Augen nach diesem Buch“, „Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen“, „Dass dies ein Klassiker werden wird, hat sich ja herumgesprochen“ usw.

Zitat aus „Tschick“ (S. 58): Nathalie hatte ganz oben ihr Kreuz gemacht. Das war allgemein bekannt, Tatjana fand Beyonce toll. Was ich erst mal ein bisschen problematisch fand, weil ich Beyonce scheiße fand, jedenfalls die Musik. Aber immerhin sah sie fantastisch aus, sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Tatjana, und deshalb fand ich Beyonce dann irgendwann auch nicht mehr ganz so scheiße. Im Gegenteil, ich fing an, Beyonce zu mögen, und auch ihre Musik mochte ich auf einmal. Nein, das stimmt nicht. Ich fand die Musik super. Ich hatte mir die letzten zwei CD s gekauft und hörte sie in Endlosschleife, während ich an Tatjana dachte und daran, mit was für einem Geschenk ich auf dieser Party auflaufen wollte. Irgendwas von Beyonce konnte ich ihr auf keinen Fall schenken.1
Die Kritik lobte hier die „austarierte, einfache Sprache, die auf einen real abgelauschten Jugendjargon unaufdringlich anspielt, ihn aber nicht kopiert“. Das ist fast das Gescheiteste, was sie zu sagen weiß, aber es bedeutet fast nichts, weil sie etwas Wichtigeres unterschlägt.

Man vergleiche ein Zitat aus „Haben und Nicht-Haben“ (Hemingway, S. 150): Wahrscheinlich werde ich als Hure enden. Vielleicht bin ich bereits eine. Wahrscheinlich weiß man es nicht, wenn man eine wird. Meine besten Freunde werden es mir vielleicht sagen. Man liest das nicht im Lokalteil. Das wäre was für Mr. Winchell, eine gute neue Anzeige: Sauerei, Mrs. John Hollis ferkelte von der Küste in die Stadt. Besser als Babies. Verbreiteter wahrscheinlich. Aber Frauen haben wirklich nichts zu lachen. Je besser man einen Mann behandelt, und je mehr man ihm zeigt, dass man ihn liebt, umso eher wird er der Sache überdrüssig. Wahrscheinlich sind die Guten so beschaffen, dass sie eine Menge Frauen haben müssen, aber es ist furchtbar anstrengend, wenn man versucht, all die verschiedenen Frauen in sich zu verkörpern, und wenn er dann davon genug hat, nimmt irgendein Küken ihn dir einfach weg.2
Der Unterschied zwischen dem plappernden Jugendlichen bei Herrndorf und der plappernden Yachtklub-Lady bei Hemingway liegt darin, dass der Jugendliche noch nichts erlebt hat. Seine Welt ist ein schmaler Ausschnitt von Erfahrung, der auch durch Assoziation (und Gleichgewicht von Hochsprache und Jargon) nicht breiter wird.

Schon J.D. Salinger verfremdete Amerika durch die Sprache seines sechzehnjährigen Helden. Ein Jugendlicher diente ihm als Brechungsspiegel für die Gesellschaft, das war (sieht man von„Huckleberry Finn“ ab) um 1950 neu. Die komische Ernsthaftigkeit eines unreifen Menschen beflügelte den Humor des Autors. Zitat aus „Der Fänger im Roggen“, S. 74: Schließlich zog ich mich aus und ging ins Bett. Ich hätte gern gebetet oder ich weiß nicht was, aber ich brachte es nicht fertig. Ich kann nicht immer beten, wenn ich dazu Lust habe. Erstens einmal bin ich eine Art Atheist. Christus und so habe ich wohl gern, aber aus dem übrigen Zeug in der Bibel mache ich mir nicht viel. Zum Beispiel diese Jünger: die ärgern mich wahnsinnig, wenn ich ehrlich sein soll. Nachdem Christus tot war, benahmen sie sich zwar anständig, aber solange er noch lebte, nützten sie ihm ungefähr soviel wie ein Loch im Kopf. Sie ließen ihn immer nur im Stich. Fast alle Leute aus der Bibel sind mir lieber als die Jünger, Falls es jemand genau wissen will: der Kerl, der mir nach Jesus in der Bibel am besten gefällt, ist dieser Verrückte, der in den Gräbern wohnte und sich dauernd an Steinen schnitt; der gefällt mir zehnmal so gut wie die Jünger, dieser arme Hund.3
So gibt es hier eine Wirkung bereits dadurch, dass der Held so jung ist und so wenig Bildung hat, er kann die Christus-Jünger nicht besser einschätzen. Herrndorf hat Salinger, er hat den „Fänger“, jahrelang studiert und 2010 seine Vorarbeiten zu „Tschick“ hervorgeholt und das Buch rasch geschrieben.

Zitat aus „Tschick“, S. 252, für die volle Aktion: Meine Mutter wurde sehr ernst, schenkte sich noch ein Glas ein und warf auch die leere Whisky- flasche in den Pool. Dann umarmte sie mich. Sie riss die Kabel vom DVD Spieler raus und schleuderte ihn ins Wasser. Es folgten die Fernbedienung und der große Kübel mit der Fuchsie. Eine riesige Fontäne spritzte über dem Kübel hoch, dunkle Sandwolken stiegen an der Einschlagstelle auf, und rote Blütenblätter schwammen auf den Wellen. „Ach ist das herrlich“, sagte meine Mutter und weinte. Dann fragte sie mich, ob ich auch was trinken wolle, und ich sagte, dass ich lieber auch etwas in den Pool werfen würde. „Hilf mir mal.“ Sie ging zur Couch. Wir schleppten die Couch bis zum Beckenrand. Sie machte eine Eskimorolle und dümpelte dann mit den Füßen nach oben knapp unter der Wasseroberfläche. Meine Mutter kippte den runden Tisch in die Senkrechte und ließ ihn in einem großen Halbkreis über die Terrasse rollen. Er fiel ganz hinten ins Wasser.4

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Man vergleiche diese Passage mit einem Zitat aus „Nach dem Sturm“ (Hemingway), S. 319: Es ging um gar nichts, um irgendwas über Punschmachen, und dann begannen wir zu raufen, und ich rutschte aus, und er kriegte mich unter, kniete mir auf der Brust und würgte mich mit beiden Händen, als ob er mich umbringen wollte, und die ganze Zeit über versuchte ich, mein Messer aus der Tasche zu ziehen, um ihn los zu schneiden. Die andern waren alle zu betrunken, um ihn von mir fortzuzerren. Er würgte mich und hämmerte meinen Kopf auf den Boden, und ich bekam das Messer raus und öffnete es, und ich schnitt seinen Armmuskel quer durch, und er ließ mich los. Er hätte mich nicht länger festhalten können, wenn er´ s noch so gewollt hätte. Dann wälzte er sich und hielt sich den Arm und fing an zu jammern, und ich sagte: „Zum Teufel noch mal, wozu wolltest du mich abmurksen?“ 5

Eine Attacke gegen Sachen ruft weniger Gefühl hervor als eine Aggression gegen einen Menschen. Sobald der Autor eine Handlung deutlich beschreibt, mobilisiert der Leser Anteilnahme. Unwillkürlich. Dieses Echo ist bei einem, am Todesrand geführten Zweikampf ziemlich laut. Es ist dabei nebensächlich, ob die Kritik die barbarischen Zeiten und das männliche Ich gutheißt oder nicht, wenn die Affekte noch da sind und stark wirken. Auch die Erfahrungen eines ganzen Lebens können nicht durch den Spiegel eines Kindes, Halbwüchsigen, Schwachsinnigen, Geisteskranken usw. ersetzt werden, ohne dass die Literatur aufhört, von weit her zukommen. Ein Handlungsteil erhält ein größeres Gewicht, wenn zB. die Vernichtung einer Einrichtung in eine größere Zerstörung eingefügt ist. Herrndorf hätte sehr wohl schreiben können: „Meine Mutter weinte und umarmte mich. Dann fragte sie mich, ob ich auch was trinken wolle. Ich sagte Nein und dann begannen wir, ihre und Papas Möbel in den Pool zu werfen.“ Doch dafür hätte er in die Psyche seines Helden (der ohnehin alles in einer Rückblende erzählt) nicht so viel Unbestimmtheit hineinlegen dürfen.

1 W.H., Tschick, Berlin 8. Aufl. 2012, S. 58
2 E.H., Haben und Nicht-Haben, Reinbek bei Hamburg, 1951, S. 150
3 J.D.S., Der Fänger im Roggen, S. 74
4 W.H., a.a.O., S. 252
5 E.H., Gesammelte Erzählungen, Reinbek bei Hamburg, 1977, S. 319

© M.Luksan, Juni 2015

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