DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Das Manko der Buchkritik

Auf geduldigem Zeitungspapier wird das Wort eines Kritikers abgedruckt: Kaum je zuvor hat ein Autor seine Leser so gerührt und gepackt. In einer anderen Zeitung steht: Der Autor hat sich eine adäquate, genaue Sprache geschaffen. Faszinierende Literatur. Große Literatur.

Der Rezensent scheint hier derjenige zu sein, der schon den Klappentext verfasst hat. Superlative müssen her. Diese passen zu den freischwebenden Lektoren, die nicht mehr im Verlagshaus, sondern zu Hause ihre Gutachten schreiben und dann bei der Lektorensitzung im Verlag die Richtigkeit ihrer positiven Beurteilung vor einer Gruppe glaubhaft machen. Angeblich denken sie immer schon an diesen oder jenen Kritiker, dem das neue Buch - wahrscheinlich – gefallen wird. So viele Bücher werden jährlich gedruckt und so viele Themen und Stile schwimmen in der dunklen Flut – da müssen die meisten glatt versinken, wenn sie nicht vorher von der Buchkritik angeleuchtet werden.

Eugenie Kain, die Tochter von Franz Kain, ist eigentlich versunken. Nur eine ganz kleine Lesergemeinde hat sie sich erobert, mit Sätzen wie: Als Kind erlebte ich die Sprengung der Wollzeugfabrik beim Kastanienklauben. Zwei, drei, vier dumpfe Donnerschläge und die Kastanien im verwaisten Gastgarten des Hotels Achleitner in Urfahr prasselten von den Bäumen und in Linz an der Gruberstraße geriet das barocke Gemäuer der Wollzeugfabrik ins Wanken.¹ Oder: Unter der Woche dröhnen die Bagger und Bohrer, Hämmer und Laster, große Schaufeln und schwere Gewinde wühlen und schlagen sich mit Getöse und Erschütterung in die Erde. Das gibt im schalldichten Studio von FRO Erklärungsbedarf: Der Verkehrslärm im Hintergrund kommt von der Donaulände, weil das eingespielte Interview im Stifterhaus aufgenommen wurde; die Musikfetzen kommen vom Urfahraner Markt; und das Kreischen, Gellen und Wummern von der AEC Baustelle vor dem Haus.¹

Daniel Glattauer, der Sohn von Herbert O. Glattauer, wurde gehoben. Er ist ein aus dem Journalismus kommendes Talent, für dessen Erfolg die eine oder andere Zeitung mittrommelte. Er liefert Sätze wie: Judith führte ein kleines Unternehmen in der Goldschlagstraße im fünfzehnten Bezirk. Das klang zwar unternehmerischer als es war, aber sie liebte ihr Lampengeschäft, mit keinem Lokal der Welt wollte sie es tauschen. Schon in der Kindheit waren dies die schönsten Räume auf Erden, voll glitzernder Sterne und funkelnder Kugeln, stets hell erleuchtet, immerzu festlich. In Opas glänzendem Freilichtmuseum ließ sich täglich Weihnachten feiern.² Oder: Judith ging gern in die Arbeit. Und wenn nicht, wie so gut wie immer nach Feiertagen, dann betrieb sie jeden nur erdenklichen Aufwand, es sich einzureden. Immerhin war sie ihre eigene Chefin, auch wenn sie sich mehrmals täglich eine andere, nachlässigere wünschte, zum Beispiel ihr Lehrmädchen Bianca, die nur einen Spiegel brauchte, um vollbeschäftigt zu sein.²

Eine neue Begabung im Bereich der Poesie steht ebenfalls dem Journalismus nahe: Doris Knecht. Sie beschreibt eine Männerfigur mit folgenden Worten: Die Vergangenheit riecht nach Schweiß und trägt jetzt eine Brille, die für ihr Gesicht zu klein ist. Das Gesicht ist schlecht rasiert und deutlich mehr geworden, die Wangen sind fleischig jetzt, das Kinn ufert aus. Die Vergangenheit hat sich verändert: was früher scharf war, ist nun schwammig, was einmal blond strahlte, ist stumpf und grau jetzt, wo früher Lücken klafften, sind jetzt Zähne, gelb(…) Die Vergangenheit ist fahrig und nervös, dann wird sie ungut, dann geht sie grußlos. Du sitzt hinter deinem Caffe Latte und schaust ihr zu, wie sie mit einem Ruck aufsteht, wie ihr Stuhl zornig zurückzuckt und irgendwie verdreht stehen bleibt, zufällig und falsch, wie eine verrenkte Katze auf der Fahrbahn.³

Marcel Reich - Ranitzky war eine Ausnahme.
Marcel Reich - Ranicki war eine Ausnahme.

Wenn man dazusagt, dass die Zitate eine durchschnittliche Qualität der jeweiligen Poesie wiedergeben, und vielleicht noch anmerkt, dass der gebildete Leser lieber Sätze als Geschichten liest, sieht man gleich, dass die versunkene Autorin mit Abstand die beste Poesie liefert. Das ließe sich sogar semiotisch – quasi-objektiv – zeigen. Eugenie Kain fasst das Geschehen in Raum und Zeit, sie findet den passenden Klang für ihren Stoff, sie färbt den Sachverhalt durch die gewählten Wörter rasch ein, und sie führt den Leser auf seinem Weg; sie stößt ihn nicht auf eine Spielwiese hinaus, wo er die Sätze alleine zu Ende murmelt, weil ihre Sprache ohnehin die seine ist. Bei Daniel Glattauer, dem literarischen Liebling der Massen, fehlen die überraschenden Wortverbindungen völlig. Eine Frau führt ein Lampengeschäft als „Unternehmen“, das „unternehmerischer“ klingt, als es ist, doch es wird „geliebt“, sie will es „nicht tauschen“, es hat die „schönsten Räume auf Erden“ und gehört dem „Opa“, der das Dach hat abtragen lassen, denn es ist ein „Freilichtmuseum“.

Der moderne Erzähler erfindet nicht nur eine Geschichte, sondern er lenkt auch die Konstruktion seiner Bedeutungen durch inkohärente Wörter. Diese sammelt er auf einem Blatt Papier, so wie ein Lyriker. Er schreibt nicht das Wort „Unternehmen“ hin und daneben das Wort „unternehmerischer“, denn das hieße: Null Einfall. Der moderne Erzähler braucht viele Wörter, nur um einige wenige zu finden. Er kann auch den einfachen Vorgang nicht verrätseln, umschreiben oder vergröbern, denn er erhält auf diese Weise keine gute Poesie. Er muss ihn möglichst knapp sagen, muss die direkteste Beziehung zwischen Wort und Sachverhalt finden. Damit ist es ihm völlig unmöglich, einen so faulen Trick wie den von Doris Knecht zu verwenden, die einen verflossenen Liebhaber mit „sie“ bezeichnet, die Heldin aber mit „Du“ anspricht, als würde das Du etwa nicht zur „Vergangenheit“ dazugehören. Hier hat sich die Bemühung um poetische Überhöhung mit schwachem Intellekt offensichtlich vermählt.

Der Kritiker könnte das in seiner Rezension zeigen, dass ein Schreibtrick als Maschine ohne Energiezufuhr die Sätze des Textes mitgefügt hat, oder dass die Frischheit der sprachlichen Bilder einfach nicht vorhanden ist. Stattdessen kündet er meist nur von seiner Subjektivität, die freilich eine privilegierte ist. Denn er hat eine Sonderstellung unter den Lesern dadurch erlangt, dass sein Erlebnis mit dem Buch abgedruckt wird. Natürlich hat er auch mehr Bücher schon gelesen als der normale Leser und sich vielleicht auch eine kleine Typologie für all die Bücher schon zurechtgelegt. Doch die größere Zahl und die paar Etiketten sind kein Garant dafür, dass er weniger subjektiv verfährt als der normale Leser. Er bräuchte ein Prinzip, das entweder die Werkstruktur oder der Stil des Autors ist, um seine eigene Subjektivität verlässlich einzuschränken.

Reich-Ranicki hatte dieses Wissen von Werk und Stil (das er leider mit einer scharfrichterischen Diktion verband) und Joachim Kaiser hatte es ebenfalls. Auch bei Glattauer, der vielen Lesern offenbar gefällt, oder bei Doris Knecht, die der heutigen Coolness einen Ausdruck geben will, sollte der Kritiker immer zeigen, was der vorliegende Stil wirklich leistet. Lädt er nur zum Überfliegen der Wörter ein? Oder nur zum Mitformulieren des bereits gedruckten Textes? Tendiert er zur Gebrauchsliteratur? Oder zum Schreibbaren Text? Oder ist er sprachlich frisch und von gleichmäßiger Genauigkeit? Das teilt der fähige Kritiker dem Leser mit, unabhängig davon, was der vorliegende Text an speziellen Stilmerkmalen, die alle sekundär sind, sonst noch leistet.

    ¹) Aus: Wäscheleinen im globalen Dorf, In: Tarantel 3-4, 2012
    ²) Aus: Ewig Dein, In: Der Standard – Album, 21. Jan. 2012
    ³) Aus: Besser, In: Der Standard – Album, 9. März 2013

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