DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Listige Übertreibungen in der Literatur

Der realistische Erzähler des 19. Jahrhunderts hatte eine eingeschränkte Vorstellung von Realität, die er von sich selbst als poetischen Weltbaumeister und Gott seiner Figuren abgetrennt sah und für deren „Abbildung“ er die angeblich einzige Optimalform der großen Dichtung suchte. Das stützte er durch Mitvergangenheit und Dritte Person Singular, die ihm zugleich als Literaturzeichen dienten. – Mit diesem zutreffenden Befund stieß 1953 Roland Barthes über sein Ziel, die Konventionen der bürgerlichen Erzählhaltung zu verdeutlichen, hinaus und präsentierte fast einen Gut – Böse – Gegensatz (zwischen klassischer Schreibweise und modernem Stil): Die realistische Schreibweise kann niemals überzeugen, sie ist dazu verurteilt, immer nur zu beschreiben 1) … Der dem Roman und der erzählten Historie gemeinsame Zweck ist, die Fakten zu entfremden 2) … die Aufrichtigkeit brauchte hier falsche und ganz offensichtlich falsche Zeichen, um zu dauern und verbraucht zu werden 3) (R.B., Am Nullpunkt der Literatur, dt. 1959, S. 79, 41, 49) Das Ganze war ein Angriff, um neuer Literatur Raum zu schaffen, war aber als Abrechnung hochgerechnet, wobei die Zwänge des alten Erzählens (v.a. durch Rhetorik) völlig ignoriert wurden.

Inferno (Ausschnitt) von Taddeo di Bartolo, 1396

Nicht nur in der Malerei, auch in der Literatur wurde also nach dem Zweiten Weltkrieg der Nullpunkt ausgerufen. In der Malerei wertete man die gegenständlichen Maler ab, in der Literatur die realistischen Dichter. Man stellte bei subtil gegliederter Sprache, bei poetischer Sprache, die Vernunftbezogenheit des Textes in Frage (was die romantische Literatur immer schon gemacht hatte) – und schaffte auch gleich die Realität ab. Doch nur der Realismus als Stil war fraglich geworden. Seit 1900 wussten die umfassend, dh. nicht nur historisch Gebildeten, dass die für den Einzelmenschen wirkende Wirklichkeit von keiner Kunst der Welt dargestellt oder abgebildet werden kann. Die Realität ist für kein Medium der Welt, also auch für die Kunst nicht, vollständig zu haben. Trotzdem ist sie da, wirkt sie und man kann sich ihr durch die Sprache der Kunst nähern.

In denn 1950er und 60er Jahren versuchte man durch das Entgleisen der Sprache Poesie zu Anaerobe Bakteriengewinnen oder durch eine bewusst unvollständige oder abgebrochene Geschichte die Realität zu zeigen. Ersteres hat die Wiener Gruppe, zweiteres Peter Handke gemacht. Beides sind Methoden mit kleiner Wirkung. Doch eine Kunstkritik, die unter dem Novitätsdiktat steht und das Werk als Ganzes kaum beachtet, pries sie als Gipfelleistungen an

Neben dem literarischen Minimalismus, der den Inhalt poetischer Texte tendenziell verdünnt und oft auch Verachtungsposen gegen humanistische Literatur erzeugt, hat sich ein zweiter, großer Trend in der modernen Literatur gezeigt. Das ist der Übergang vom lesbaren zum schreibbaren Text. Dieser zweite Trend hängt mehr mit dem Leser als mit dem Autor zusammen. Der moderne Leser möchte nicht nur lesen, d.i. im besten Sinn: Wort für Wort abgrasen, sondern er möchte mitformulieren, mitmurmeln (wie das beim raschen Lesen fast automatisch geschieht!) und dabei zugleich Momente der Souveränität genießen. Eine solche Rolle des Lesers ist nun neu und verlagert die ganze, poetische Literatur vom Werk zum Vorgang hin. Der Autor ist dann eher der Erbauer einer Spielwiese für halbkreative Leser als der Gestalter einer poetisch fertigen Welt.

Gerhard Roth hat den Trend der Schreibbarkeit nicht mitgemacht , dafür aber das Zerbrechen der herkömmlichen literarischen Form. Letzteres hat er offenbar von der „Wiener Gruppe“ übernommen, die ihren literarischen Anspruch daraus ableitete, und es mit der Lesbarkeit und mit dem farbigen Wort verbunden. Seine schön und anschaulich geschriebene „Winterreise“ ist noch ganz linear, aber schon ganz unglaubwürdig. Er vermeidet strikt die Psychologie. Heute hat sich dieser Autor eine Philosophie geschaffen, durch die er seine Verrätselungen begründet und hoch einschätzt. Er stellt den Zyklus gegen die Linearität und will mit einem Kaleidoskop Effekt (nichts Genaues: das Buntscheckige von fern betrachten!) der Realität angeblich näher kommen als der Erzähler mit seinem im Sprachraum ausgespannten Liniennetz.

Inferno (Ausschnitt) von Taddeo di Bartolo, 1396 Er will auch Gewalt, Wahn und Albtraum abgekoppelt von der Vernunft zur Darstellung bringen. Auf Bildungsreisen lässt er sich von nackten und kahl geschorenen Figuren auf Höllenbildern in italienischen Kirchen an deutsche Konzentrationslager gemahnen. Er sammelt diese Fantasien aus verschiedenen Zeiten und gestaltet mit Hilfe dieser Als Ob – KZ - Darstellungen die „Innenseite des NS“ in zyklischen Erzählwerken. Den übrigen NS überlässt er den Historikern, die er kaum schätzt. Er selbst stützt seine Kunst mit solchen Argumenten, will Büchern mit extrem unklaren Inhalt (die formal nicht reizlos sind!) einen hohen Anspruch verleihen.

Nun sind wir alle anspruchsvoll. Es scheinen jedoch die bekannten Autoren in Österreich die Aufgabe zu erfüllen, den Intellekt der unbekannten zu negieren und zu verdecken. Ein Meister des indirekten Sprechens (F. Schuh) scheint sich mit einem Österreich-Deuter, der über das Unerklärliche, das Unsichtbare und das Unmögliche einen Roman schreiben will (G. Roth), in dem persönlichen Verzicht auf scharfen Intellekt zu treffen. Als sollte dieser dort bleiben, wo er nichts Neues mehr anstößt: beim Ordinarius, beim Katholischen Dekan, beim Gerichtspräsidenten, beim Chefredakteur, beim Vorsitzenden der SPÖ. Ich mache meine Entdeckungen und schreibe, der intellektuelle Austausch beschränkt sich auf das Lesen von Büchern und Betrachten von Katalogen. (G. Roth in Der Standard, Album, 23. 06.12)