DAS IST DIE HOMEPAGE VON MARTIN LUKSAN UND DES VEREINS FÜR RHETORIK UND BILD

 
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Rarer Kritiker


Thomas Rothschild, der mit seinem Stil und mit seinem Zorn an Alfred Andersch erinnert, ist in Österreich ein seltener Typ. Er hatte berühmte Freunde, ist weit gereist, und widmet sein Leben der Kunst, der Literatur und der Gerechtigkeit. Er ist ein Linker mit Herz, dem „Parteibuchdiktatur und andere Mechanismen“ das Erwerbsleben im österreichischen Wissenschaftsbetrieb verunmöglichten. Er lebt in Stuttgart, nicht in Wien. Als ein Vordenker für Autonome und Unverblümte, die an einer Wortkultur für Öffentlichkeit in Österreich basteln, erklärt er Spielregeln der Meinungsmacherei. Zum Beispiel den Vorwurf des Ressentiments: Intellektuellen-Darsteller, die beim Reden scheinbar ausschließlich mit den Poren atmen, weichen der Polemik aus und weisen Ressentiment nach, weil ja der Mensch die grenzenlose Welt so unentschieden durchwandert. Rothschild zeigt dabei die Macht, die Ohnmacht und die Menschenverachtung auf, wie Herausgeber und Redakteure über Autoren regieren, die im Unterschied zu ihnen ihre Sprache nicht durch Versatzstücke und ihre Gedanken nicht durch Ladenhüter bewegen müssen. Dennoch ist klar, wer hier die Maßstäbe für „in“ und „out“ mitbestimmt und am Schluss entscheidet, wer ökonomisch versorgt wird und wer „autonom“ bleiben darf. In Bereichen, wo die Beispielgebung ausgesprochen schwierig ist, macht der Formulierer Rothschild Aussagen vom Typus „so läuft alles darauf hinaus, Kritik unmöglich zu machen“ wunderbar konkret.


Aus: Thomas Rothschild, Relax and Enjoy. Die totale Infantilisierung, Wien (Wespennest), 1995

Dieser Autor beschreibt die Beliebigkeit, die entwertet

Ueberfluss in London 1983Der Kapitalismus ist mittlerweile totalitärer, als man sich gemeinhin eingesteht. Undseine Agenten brauchen gar nicht erst Daten und Geheimnisse zu sammeln, um Menschen zu kontrollieren. Sie vernichten auf subtilere Weise Kritikfähigkeitund Sinnlichkeit des selbstbestimmten Menschen und berufen sich noch auf dessen Einverständnis. Sie nehmen, wo sie zu geben scheinen. Was nicht ausschließt – und das ist einer der vielen immanenten Widersprüche -, dass es bei Veranstaltungen, diediesem Prinzip folgen, trotzdem große und schöne Momente für den einzelnen gebenkann.
     Kinder unterscheiden nicht zwischen dem Signifikanten und demAkzidentiellen.Für sie ist alles gleich wichtig. Fragt man heute, was es Neuesgebe,wird einem von Medien wie im privaten Gespräch undifferenziert alles erzählt, was passiert, keineswegs nur das, was den Namen „Neuigkeit“ verdient. Die sich häufenden Magazinsendungen des Fernsehens und des Hörfunks reihen Belangloses anBedeutsames, Arbiträres an Wesentliches, die Illustrierten gewichten Tratsch wie Ereignisse von weitreichender politischer Konsequenz, die Lokalteile melden den Ausspruch des Bürgermeisters bei einer Cocktailparty gleichwertig mitdem Beschluss des Gemeinderats, der jahrelang für die Stadt Folgen haben wird. Das kindliche Geplapper, die Unfähigkeit, Hierarchien herzustellen im Mitteilenswerten (oder eben nichtMitteilenswerten), prägt unsere Erwachsenenwelt.
      Die öffentliche Verarbeitung von gesellschaftlicher Wirklichkeit bemüht sich zu nehmend darum, alles auf den einfachsten Nenner zu bringen, anstatt zu differenzieren. Alle drei Jahre entdeckt man eine neue „Generation“. Alljährlich werden die „Trends“ aufgelistet. (Deutschlands Trendverwalter heißt Matthias Horx und repräsentiert wie kein zweiter selbst einen, allerdings schon recht lange anhaltenden Trend: von der mehr oder weniger materialistischen Kritik zur angepassten, gut bezahlten Befriedigung von Scheinbedürfnissen einer gelangweilten Schickeria.) So erfahren wir, was wir immer schon dringend wissen wollten: welche Mode, welche Hunde, welche Filme, welche Rockmusik, welche Speisen „man“ zur Zeit besitzt, ansieht, hört, isst. Angestrebt oder jedenfalls ermöglicht wird damit eine Orientierung durch Fremdbestimmung statt selbstbestimmter Unterscheidung. (R.a.E., S. 45-46)

Er erklärt die Logik des Wegwerfens

Die Gespräche der Menschen - und zwar gerade auch der wohlhabenderen, gebildeteren – drehen sich mehr und mehr um nichts anderes als um Besitz, um Geld, um die bohrende Frage, wie man es am besten anlegt, oder darum, wo man günstig kaufen kann. Über den Zusammenhang von Geld und Scheiße, von Geiz und analer Fixierung wissen wir seit Freud Bescheid. Wenn sein Erklärungsmodell auch nur im Kern die Wirklichkeit trifft, dann geht es längst nicht mehr um ein individuelles, therapierbares Phänomen, sondern um das Wesen unserer Gesellschaft, die in der Regression geradezu ihre Bestandsgarantie findet.
      Die Regression ist kein Unfall, sondern gewollt. Wer sich dem entgegenstellt, wird zum Narren erklärt. Als weise gilt, wer sich selbst entschließt, mit Lust zu plappern und zu saugen wie ein Kleinkind.
     Der Zusammenhang zwischen „Haben“ und analem Charakter ist der zentrale Gedanke in Erich Fromms Werk. Während aber vor einem halben Jahrhundert der Wunsch nach Anhäufung von Besitz die Ökonomie noch ausreichend in Schwung hielt, müssen beim heutigen Wohlstand in den Industrieländern die Bedürfnisse nach Waren befriedigt und zugleich neue Bedürfnisse geweckt werden, um den Absatz zu perpetuieren. Mit Nachdruck und mit der Komplizenschaft korrupter Medien propagierte Moden, keineswegs nur auf dem Gebiet der Kleidung, suggerieren eineSportschuhe Made in VietnamUnzufriedenheit mit dem eben Erworbenen und die Möglichkeit von deren Überwindung durch neuen Erwerb. Das klassische Beispiel von den unzerreißbaren Nylonstrümpfen, die die Patentinhaber nicht produzierten, um den Absatz nicht zu gefährden, ist längst zu einer liebenswerten Karikatur geworden angesichts einer massiven Werbung, die den Käufern erfolgreich einredet, die Tapete vom Vorjahr, der Küchentisch von unlängst, die Rock CD von vergangener Woche, die Hose von gestern müssten schleunigst gegen neue eingetauscht werden, wollte man nicht hoffnungslos gegen einen kollektiven Konsens verstoßen und sich damit unglücklich machen.
    Waren müssen heute gar nicht mehr funktionsunfähig sein, um gegen andere eingetauscht zu werden. Wer durch die Straßen geht, wenn der Sperrmüll vor den Haustüren gestapelt wird, vermerkt mit Staunen, was da weggeworfen wird und ganzen Bevölkerungen von Entwicklungsländern noch als Inbegriff des Wohlstands und nützlich erscheinen müsste. Und weil sich neue Bedürfnisse selbst bei massivster Werbung gar nicht so rasch herstellen lassen, wenn die zu ihrer Befriedigung produzierten Waren abgesetzt werden sollen, unterscheiden sich die neuen Anschaffungen von jenen, die sie ersetzen, oft nur minimal. Die Geschichte der neueren Popmusik ist dadurch gekennzeichnet, dass fast jeder Song, beinahe jedes Instrumentalstück über weite Strecken einem erfolgreichen Vorläufer zum Verwechseln ähnelt und gerade so viel an Neuem enthält, dass der potentielle Käufer meint, nicht darauf verzichten zu können. (R.a.E., S. 61-62)

Er schreibt über die Welt ohne Solidarität

Mit dem „Haben“, dem zwanghaften Konsum eng verbunden, ist die zweite Säule unserer kapitalistischen Gesellschaft, die Konkurrenz. Sie findet ja keineswegs nur zwischen Unternehmen oder am Arbeitsplatz statt, sondern auch im Konsum selbst. Sich mehr leisten zu können als der Nachbar, die Anforderungen der neuesten Mode zu erfüllen, wo der Kollege noch den Hemdkragen von gestern trägt, die Musik von gestern hört, das Auto von gestern fährt, hebt Selbstbewusstsein, Sozialprestige und – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - Kreditwürdigkeit. Auch hier kann übrigens von einer größeren Vernunft bei Frauen keineswegs die Rede sein. Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen etwa die Kleidungsgewohnheiten ihrer Konkurrentinnen weitaus kritischer beobachten als Männer. Der ansonsten kaum erklärbare Erfolg der immer gleichen Spielshows und Ratesendungen im Fernsehen ist Beleg zugleich für das Vordringen der Konkurrenz in sämtliche Lebensbereiche (also in die Freizeit nicht weniger als in die Arbeitswelt) wie für die Infantilisierung von Erwachsenen.
     Elias Canetti hat in seinem bis heute in seinen Konsequenzen keineswegs ausgeschöpften Essay „Masse und Macht“ und in zahlreichen Aphorismen immer wieder der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass viele menschliche Verhaltensweisen interpretierbar sind als Wunsch, den anderen zu überleben. Demnach ließe sich die unsere Gesellschaft in sämtlichen Bereichen bestimmende Konkurrenz verstehen als der Kampf des einzelnen gegen alle anderen mit dem Wunsch, sie zu überleben. Die Konkurrenz, ohne die das kapitalistische System, die viel gepriesene Marktwirtschaft nicht denkbar ist, stellt sich dar als die ständige symbolische Realisierung eines Tötungswunsches. So betrachtet besteht die Zivilisation darin, diesen Tötungswunsch, der sich ja der Sprache des Banken- undGeschäftswesens unschwer ablesen lässt, nicht physisch, sondern eben nur symbolisch befriedigen zu lassen. Die Rede geht vom Konkurrenten, den man Ende in Paris 1983„ausschalten“ muss, um selbst zu „überleben“. Die ökonomische Vernichtung des Konkurrenten ersetzt seine physische Vernichtung. Strukturell besteht zwischen der Ausschaltung eines geschäftlichenKonkurrenten und der tatsächlichen Tötung eines Asylanten als eines möglichen Konkurrenten auf dem Arbeitsplatz kein Unterschied. Zugespitzt formuliert: Die Gewalttaten von Rostock, Mölln oder Solingen sind die Übertragung des kapitalistischen Konkurrenzkampfes in den physischen Bereich – charakteristischerweise durch Menschen, die auf Grund ihrer ökonomischen Verhältnisse keine Möglichkeit haben, den Tötungswunsch bloß symbolisch zu befriedigen.

(R.a.E., S. 64-65)